von Franz Brunner
NatĂŒrlich waren wir im Paarlauf am Friedhof. Vor einer Woche schon und heute wieder. TROTZDEM und nicht, WEIL Allerheiligen ist. Und schön war’s. Grau, dĂŒster, feucht und kalt. So richtig schön eben, wie es diesem Tag gerecht wird. Fast kitschig, so wie es war. WĂ€ren da nicht die vielen Menschen gewesen. Nein, nicht die, derentwegen wir hier sind, die es bereits hinter sich gebracht haben. Die aufrechten Zweibeiner mit den roten Einheitskerzen aus den SupermĂ€rkten oder ĂŒberteuerten Verkaufsautomaten in der Hand, die sind sehr zahlreich. Die einheitlich finstere Miene und die mehrheitlich verschrĂ€nkten HĂ€nde sind das i-TĂŒpfelchen. Das macht man hĂ€ufig so, sobald es um eine ernste Sache geht. Muss man aber nicht, in der Friedhofsbetriebsordnung steht nichts davon. Da steht nur was vom Rauchverbot und dass man nicht Essen und Trinken soll. Wird man verhaftet oder gar vom Blitz erschlagen, wenn man am Friedhof fröhlich ist? Anscheinend nicht, denn einige machen’s trotzdem und laufen immer noch putzmunter herum. Einerlei, ich wage es und bin ebenso gut drauf.
Wir besuchen Vater, Stiefmutter, Schwiegermutter und GroĂmutter. Hier ein kurzes GesprĂ€ch und dort ein paar Worte des Dankes. Weil wir Zeit und MuĂe haben, schlendern wir noch bei Sportfreunden, Schulkollegen, entfernten Verwandten und flĂŒchtig Bekannten vorbei. Ich entsage mich vorsĂ€tzlich der finsteren Miene, lĂ€chle den Grabsteinen, den Bildern und Inschriften keck entgegen. Die, die da unten liegen, freuen sich wahrscheinlich ĂŒber den Besuch und strahlen durchs kalte Erdreich.
Ich zĂ€hle. Wie viele Menschen sind schon in meinen Armen gestorben, wie vielen Menschen durfte ich beim letzten Atemzug die Hand halten? Die Zahl spielt keine Rolle, was ich empfunden habe, daran möchte ich mich erinnern. Diese Begegnungen haben mir die Angst vor dem Tod genommen, der Respekt ist allerdings gewachsen. Wer denkt schon in der Jugend, in der Sturm- und Drangzeit, in den turbulenten Zeiten des Existenzaufbaues ĂŒber Leid und Tod nach?
Erst wenn’s bei einem selbst zu zwicken beginnt, wenn die Schreckensnachrichten im Umfeld sich hĂ€ufen, dann registriert man, dass die EinschlĂ€ge nĂ€her kommen. Unaufhaltsam und spĂŒrbar. Der Istzustand wird analysiert, SchwĂ€chen und Verfehlungen werden eingestanden. PlĂ€ne werden geschmiedet, Besserung wird gelobt und schleunigst die ErnĂ€hrung umgestellt.
So, jetzt reicht’s. Bei der ErnĂ€hrung, da hört sich der SpaĂ auf. Und der Weinkeller wurde erst vor einer Woche groĂzĂŒgig aufgerĂŒstet. Ja, das Leben ist einzigartig, ein unglaubliches Wunder. Ein Wunder, dass ich erst mit den Jahren zu schĂ€tzen lernte. Und wenn’s dereinst so sein soll, dann macht das Wunder eben eine verdiente Pause.
Genug GesprĂ€che fĂŒr heute, ich bin ein introvertierter Typ. Wortlos blicke ich meinem Herzblatt in die neugierigen Augen. Ich drĂŒcke dankbar ihre Hand, diese erwidert kraftvoll. Und am Nachhauseweg wird dem dĂŒsteren Tag trotzig entgegengelĂ€chelt.
© Franz Brunner 2021-11-01