Berlin 8. Mai 45! Kapitulation. Hitlers Wunderwaffe blieb in irgendwelchen Kellern.
Meine Mutter fragte: „Alles vorbei?“ Als mein Vater das bejahte, stellte sie trocken fest: „Wie sieht det denn hier aus?“ Berlin zu zweidrittel zerstört, die Schönheit der Stadt weggeblasen. Sogar die Berliner Luft roch anders! Berliner Hausfrauen putzten zwar Berlin blank, aber Not, Hunger, Elend, Ausgebombtsein blieben. Der Winter 1946/47 war der kälteste seit Jahrzehnten. Die Lebensmittelversorgung brach zusammen. Tausende Menschen starben an Hunger oder Kälte.
Mein Vater konnte wegen seiner technisch-wissenschaftlichen Ausbildung im Elektrizitätswerk im Osten arbeiten (AEG) – wenn auch zeitlich nur begrenzt, weil Ulbricht meinte, wer in Ostberlin arbeite, müsse auch dort wohnen. Mit Kommunisten hatten meine Eltern nichts im Sinn. Der Aufstand vom Juni 1953 bestätigte ihre Befürchtungen.
Kündigung, arbeitslos – wie hunderttausende, die ihre Wohnung in Westberlin nicht aufgeben wollten. Er brachte sich und seine Familie mit Gelegenheitsarbeiten durch, verlegte Gasleitungen, überwachte Gasrohre und -beleuchtungen – für einen studierten Mann der Elektrotechnik keine ausfüllende Tätigkeit.
Zwei Jahre später erneut arbeitslos! Arbeit zu finden in einer Stadt, die von ihrem Hinterland abgeschnitten war, wurde zusehends schwieriger. Dennoch konnte er seine elektrotechnischen Kenntnisse in einer Maschinenbaufirma begrenzt einsetzen.
Marshallplan und die Währungsreform 1948 sorgten für Stabilität und waren Grundlage für eine neue Wirtschaftsordnung unter sozialen Aspekten: Basis für den Wohlstand breiter Bevölkerungsschichten. Doch 1952 kam es erneut zu einer Rezession mit vielen Arbeitslosen. Mein Vater musste Arbeit in Westdeutschland suchen und fand sie in Salzgitter.
Das hieß: Berlin verlassen. Ich sollte Berlin verlassen! Mich trennen von meinem Freund Micha, mit dem ich heimlich Zigaretten geraucht hatte, der liebgewonnenen Straße, dem kleinen Garten, vom Nordgraben mit seinen Fröschen und vom Steinberg-Rodelpark, vom Spielen in zerfallenen Bunkern und meiner ersten Liebe, Monika, die sich beim Kartoffelfeuer festgenagelt hatte. Weg vom Wäldchen, der Tischlerwerkstatt meines Großvaters, der Eckkneipe mit Oma Bulette.
Fort aus einer ruinenübersäten Stadt, in der wir Kinder rumstreunten, uns irgendwie zurechtfanden – weg von Berliner Bussen, auf die man während der Fahrt auf- und abspringen konnte, den ruckelnden U- und quietschenden S-Bahnen mit ihren müffigen Bahnhofsgerüchen, von Spree, Wannsee, Lübars und meinem ersten (Humboldt)-Gymnasium.
Landete in einem kleinbĂĽrgerlichen Kaff, das gerade seine Fachwerkarchitektur mĂĽhsam richtete.
Was blieb? Eine tiefe Sehnsucht, die mich Jahr für Jahr überfällt. Sehnsucht nach dieser Stadt – die mich zu sich einlädt, in ihren Bann zwingt, ihre Luft in meine Lungen spült.
Um immer wieder Erinnerungen breiten Raum zu geben.
© Heinz-Dieter Brandt 2021-03-13