von Mary Modl
Keine Angst! Ich habe ihn gefragt, meinen Protagonisten. Worum? Na um die Erlaubnis. Darum, in den folgenden etwa 2.450 Zeichen seine Story hier aufzublättern. Seinen Weg zu beschreiben. Seinen Weg zum wertgeschätzten und geliebten Wort. Der steinige Weg meines Sohnes Benjamin.
Mein Sohnemann war etwa 20 Monate alt, als während des Querens der Nordbrücke von hinten aus dem Fond des Wagens „Da … Müll…ver…bren…nungs…an…la…ge“ mit fragendem Unterton kam. Das war Bennys Beginn eines durchaus wortgewaltigen kleinen Daseins. Bücher faszinierten ihn von klein auf. Bald schon besserte er seine Vorleserinnen – besonders engagiert war die Omi – aus, wenn sie auch nur ein Wort ausgelassen hatte. Mit knapp vier Jahren konnte er schon erste Wörter lesen und Buchstaben schreiben. Er wollte dies.
Zu allen „heiligen Zeiten“ kam lieber Wienbesuch zu uns ins Weinviertel. Der Tante Deli, ihres Zeichens Pädagogin mit goldenem Händchen für kleine Menschen mit Defiziten und besonderen Bedürfnissen, wurden stolz kleine auf Papier verewigte „Wortkunstwerke“ des Vierjährigen präsentiert. Da nahm sie mich kurz zur Seite und meinte, sie denke, sie würde da etwas erkennen. Verdacht: Legasthenie. Ich hatte keine Ahnung davon. Sie bot mir an, mir spezielle Materialien zwecks Übens zukommen zu lassen. Und sie klärte mich genau auf, was da auf uns zukommen könnte.
Wichtig war, dass sie mir sofort jegliche Angst vor der „Krankheit Legasthenie“ genommen hatte, weil diese nicht existiere. Und sie gab mir hilfreiche Tipps für adäquate Literatur. Tante Deli bestärkte mich darin, mich intensiv mit dieser Thematik zu befassen. Sie selbst ging davon aus, dass jeder Mensch die Welt anders sehe und wahrnehme. Da konventioneller Unterricht stark über gesprochene Sprache ablaufe, könne dies zum Problem werden. Ich solle mich mit Themen wie Lernen durch Bilder, also Visualisieren, und Materialen zu Anfassen und Hantieren mit Benny beschäftigen. Mein Kind als ganz einzigartiges, kleines Wesen zu sehen, das solle im Vordergrund stehen.
So wurde ich zu einer Vielleserin an einschlägigem Wissensvermittlungsmaterial. Ich pickte mir Einzelnes aus Vielem heraus; maßschneiderte quasi ein Übungsprogramm, von dem ich hoffte, es sei für Benny genau das Richtige. Legasthenie wurde niemals wörtlich thematisiert oder überbewertet. Andere gingen sonntagvormittags in die Kirche, wir standen zwei Stunden vor dem Spiegel und machten Parallelübungen; Erforschen der eigenen Körpermitte, etwa vier Jahre lang. In der ersten Volkschulklasse waren noch latente legasthenische Züge vorhanden, dann kaum noch.
Seit bereits über zehn Jahren lehrt mein Sohn Deutsch an einer HTL; und dies mit großer Begeisterung. Wir haben ganze Ikea-Taschen – die großen blauen – voll mit Büchern im mittlerweile Bücherstüberl genannten Dachstuhlkammerl. Ab und an, meint Benny, blicke er zweimal zur Tafel, um sich zu vergewissern, ob er eh alles richtig geschrieben habe.
© Mary Modl 2021-03-28