von Mira Wagener
„Soll ich die Schuhe ausziehen?“, fragte ich, als ich neben der medizinischen Fachkraft stand, die vor der Blutspende mit den Schülern abchecken sollte, inwiefern sie für die Spende geeignet waren. Unangenehm berührt fing ich den Blick einer Mitschülerin auf, die vor dem winzigen Raum ungeduldig wartete und beobachtete, wie die Ärztin eine Waage in den Beratungsraum schleppte.
„Ne, die kannst du ruhig anlassen. Ich rechne einfach ein, zwei Kilo hinunter“, antwortete sie unbekümmert, als wäre das alles keine große Sache, aber ich konnte sie nur entgeistert anstarren.
„Ein oder zwei Kilo?!“, wiederholte ich und mein Herz begann zu rasen. „Ich wiege wirklich nur ganz knapp über 50 Kilogramm“, begann ich zum wiederholten Male zu erklären. „Das könnte dann knapp werden.“
Ich wollte schon immer einmal zum Blutspenden gehen, fand die Vorstellung immer faszinierend, einem Menschen mit einer solchen Kleinigkeit das Leben zu retten. Nur ich hasste es mehr als 50 Kilogramm zu wiegen. Für mich bedeutete diese verdammte Fünf Versagen. Mehr noch: ein Identitätsverlust. Ich war immer die Schlanke gewesen – in meiner Familie, in meinem Freundeskreis.
„Das glaube ich dir nicht so ganz“, antwortete die Ärztin und musterte vielsagend meine Figur. Ich verdrehte die Augen. Als ob diese Frau mit einem oberflächlichen Blick feststellen konnte, wie viel ich wog. Natürlich war mein Körper mein Markenzeichen, aber so richtig dünn sah ich eigentlich nicht aus.
Ich stellte mich auf die Waage, ballte meine bebenden Hände zu Fäusten und starrte auf die Zahlen. Es war zu wenig. Um mehrere Kilos zu wenig. Selbst mich überraschte das. Verwirrt blinzelte ich und wagte es nicht, der Ärztin in die Augen zu blicken. Zwanzig Minuten hatte ich Fragebögen ausgefüllt, nur um an diesem Stück Plastik zu scheitern. „Ich schwöre, vorgestern habe ich noch mehr gewogen“, rechtfertigte ich mich leise. Aber auch das schien sie in keinster Weise zu beeindrucken. Mit zusammengebissenen Zähnen schritt ich an meinen wartenden Mitschülern vorbei, die mich erwartungsvoll ansahen. „Ich durfte nicht. Ich wiege nicht genug“, verriet ich es jedem, der es wissen wollte. Unter meinen Ärger mischte sich Stolz. Ich hatte meine Identität nicht verloren. Ich war weiterhin wunderbar untergewichtig. Eine Leichtigkeit erfüllte mich, dieser angenehme Dopaminrausch, etwas erreicht zu haben, half mir beim Weitermachen. Das hier gehörte nur mir. Ich liebte es, mir zu beweisen, noch mehr zu schaffen, noch weiter gehen zu können. Wieso nicht das nächste Ziel anstreben? 45 Kilogramm waren doch wohl leicht zu erreichen. Dann ein BMI von 15. Fürs Erste. Danach würde ich stoppen. Ich wollte es mir nur beweisen. Ich hatte alles noch wunderbar unter Kontrolle. Ich würde mich nicht in die Reihe von Diabetikern in meiner Familie einreihen. Ich würde begreifen, wann man aufhören sollte zu essen. Mir ging es gut. Mir ging es bestens. Versprochen.
© Mira Wagener 2024-09-26