Leistungsprinzip

Ulrike Puckmayr-Pfeifer

von Ulrike Puckmayr-Pfeifer

Story
Wien 1973

Wintersemester 1973/74. An der Universität Wien im neuen Institutsgebäude, kurz NIG genannt. Germanistisches Institut. Ich sitze in einem überfüllten Seminarraum. Vielleicht 50 oder 60 Studierende mit mir im Raum. Die Luft ist stickig. Ich fühle mich eingeengt, zusammen geschrumpft auf ein undefinierbares Etwas, das vom im Raum schwebenden Erfolgsdruck eingeschüchtert und mundtot gemacht wird. Und dann sagt noch der Seminarleiter den bedeutungsschweren Satz: »Ich kenne nur das Leistungsprinzip. Ich kenne nichts anderes.« Leistungsprinzip – das Wort beginnt in mir zu tanzen, dreht sich im Kreis, lächelt zynisch, lacht mich aus und weicht nicht mehr von meiner Seite . Es begleitet mich wie ein lästiger Liebhaber, der von mir Besitz ergreifen will. Ein Wort wie ein dunkler Schatten, der mit mir mitgeht, wohin auch immer ich gehe. Ein Wort, das sich wie eine dunkle Wolke über alle meine Lebensvollzüge breitet. Ich atme dieses Wort ein wie die schlechte Luft, die mich in diesem menschenüberfüllten Zimmer umgibt.

Ich blicke aus dem Fenster. Ein kalter trüber Wintertag. Schnee, den es damals noch gab. Ich vergrabe mich in meine Gedanken. Gehe in die innere Emigration. Um mich herum wird geredet, geredet….. Worüber? Ich weiß es nicht mehr. An einen Menschen, der aus der Masse deutlich hervorsticht, erinnere ich mich noch heute. Er ist der am eifrigsten diskutierende Student, der selbstsicher und wortgewandt seinen Gedanken Raum gibt. Ich bewundere ihn für seine Redegewandt, seine klugen, scharfsinnigen Beiträge, ganz auf einer Wellenlänge mit dem Seminarleiter. Heute ist er ein berühmter Schriftsteller, der schon viele Bücher geschrieben hat. In der Literaturszene ein viel beachteter Autor.

Zurück zum Leistungsprinzip, das mich fest im Griff hat und für mich zur Existenzberechtigung wird. Ich leiste, also bin ich. Und der Leistungsvirus bestimmte mein Leben. Natürlich war er schon vorher da. In der Schule. Von meinen Eltern und Großeltern epigenetisch vererbt, die mit Leistung sozialen Aufstieg und wirtschaftlichen Erfolg verbanden. Und ich spürte den Auftrag, auf der sozialen Erfolgsleiter noch ein paar Sprossen höher zu steigen.

Draußen wird es dunkel. Die Tage sind kurz. Es ist November. Die eisige Winterkälte kriecht durch meine Kleidung bis an meine Haut und lässt mich erzittern. Die äußere Kälte vermischt sich mit meiner inneren, in die ich trotz des überhitzten Seminarraums allmählich geraten bin. Ich denke: Die Universität ist vielleicht doch nichts für mich. Aber was soll ich sonst machen außer Studieren? Meine Gedanken drehen sich im Kreis. Ich fühle mich orientierungslos und verloren an dieser Bildungsstätte, die Glück und sozialen Aufstieg verspricht, wenn man sich den Spielregeln unterwirft und dem Leistungsprinzip gehorsam folgt.

Die Straßenbahn kommt. Ich steige ein und setze mich auf einen Fensterplatz. Ich starre hinaus in die dunkle Nacht. Vorbei an den beleuchteten Fenstern, hinter denen Menschen ihre Leben leben. Die Fahrt dauert lange. Ich wohne in einem Studentinnenheim im 21. Bezirk. Ich steige aus, gehe durch einen dunklen Durchgang, der mir Angst macht. Dann bin ich endlich in meinem temporären Zuhause. Ein halbes Zimmer: ein Bett, ein Kasten, ein Schreibtisch. Und eine ganze Einsamkeit.

© Ulrike Puckmayr-Pfeifer 2025-03-30

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Herausfordernd, Emotional, Reflektierend, Angespannt
Hashtags