Zuerst der Taxifahrer, dann mein Friseur und jetzt auch noch mein Freund. Alle haben dieses Siegergrinsen im Gesicht, als sie mir von ihren Gewinnen berichten. Ich grinse nicht. Verlierer haben nichts zu lachen. Verdammt nochmal! Wie konnte ich nur so blöd sein? Wie lange schaue ich schon zu? Von Anfang an habe ich gewusst, dass es eine geniale Sache ist. Und das lange vor dem Taxifahrer, meinem Friseur oder auch meinem Freund. Ich war einfach zu dÀmlich, Geld in Internet-Aktien zu investieren. Oder war es Angst? Skepsis? Keine Ahnung. Ist jetzt aber auch egal.
Der Markt ist bereits krĂ€ftig gestiegen. Bei der nĂ€chsten Korrektur steige ich ein. Das habe ich mir geschworen. Auf die Korrektur warte ich aber schon lange. Zu lange. WĂ€hrend die Schwerkraft â oder ist es miese Laune? â meine Mundwinkel immer weiter nach unten zieht, wird das Siegergrinsen der anderen immer breiter. Wie lange werde ich mir noch satte Gewinne entgehen lassen?
Wenn ich bereits damals investiert hĂ€tte, wĂ€re ich heute ein reicher Mann. Und so decke ich mich erst jetzt mit Internet-Aktien ein. Die Kursgewinner der letzten Monate stehen auf meiner Liste ganz oben. Wie viel soll ich investieren? Jedenfalls eine ordentliche Summe, schlieĂlich habe ich meine Verluste â Ă€h, entgangenen Gewinne â aufzuholen. Ich kratze mein mĂŒhsam Erspartes zusammen. Es kann ja sowieso nichts passieren, schlieĂlich gehört dem Internet die Zukunft.
Wir schreiben das Jahr 1999 und die Internetblase blÀst sich so richtig auf. Mit steigenden Kursen steigt die Risikobereitschaft. In den nÀchsten Wochen und Monaten wird auch mein Grinsen immer breiter. Im MÀrz 2000 ist die Euphorie dann am Höhepunkt. Jeder will die einschlÀgigen Aktien haben und dabei sein. Steigende Kurse ziehen Spekulanten an. Und zwar so lange, bis die Blase platzt. Und irgendwann platzt sie immer.
Dann heiĂt es Wunden lecken. Die Verluste sind verheerend und werden von Tag zu Tag gröĂer. Viele stoĂen ihre Aktien entnervt ab und vergröĂern damit den Verkaufsdruck zusĂ€tzlich. Das Siegergrinsen ist verschwunden. Tiefe Furchen zieren meine Stirn. Wie konnte ich nur so blöd sein (Kommt dir die Frage bekannt vor?) und Aktien mitten in einer Blase kaufen? Es war doch klar und offensichtlich, dass es so nicht weitergehen kann!
Die Internet-Blase war meine erste groĂe Lektion an den FinanzmĂ€rkten. Sie hat mich gelehrt, dass es wenig Sinn hat, das zu machen, was alle machen, wie die Lemminge. Die wirklichen Gewinne liegen in der AntizyklizitĂ€t. âSei Ă€ngstlich, wenn andere gierig sind, und sei gierig, wenn andere Ă€ngstlich sind.â Das ist eine der wichtigsten Weisheiten des Börsengurus Warren Buffett.
Der Lemming-Effekt existiert nicht nur an den FinanzmĂ€rkten, sondern begegnet mir auch in anderen Lebensbereichen. Es schadet nicht, ab und zu mutig und antizyklisch unterwegs zu sein. Dann werde ich wieder das Siegergrinsen haben â und zwar langfristig.
© Josef Obergantschnig 2021-09-18