LENA

Wolfgang Radschiner

von Wolfgang Radschiner

Story

Halb voller Bus mit von Weihnachtseinkäufen erschöpften und apathisch ins Nichts schauenden Menschen.

An einem Fensterplatz blickt eine junge Frau, vielleicht eine Studentin, hinaus in den tauenden Schneematsch, während sich der Bus laut schmatzend in die Kurve legt. Sie sieht jedoch nicht d u r c h die verschmutzten Scheiben. Ihre Augen schwimmen in Tränen, das Papiertaschentuch in ihrer rechten Hand ist längst schon zerweint.

Ich beobachte sie eine Weile, wie sie immer wieder ihren herab fließenden Kummer von den Wangen tupft, dann wieder ihre kleine, stupsige Nase putzt. Sie weint nicht aus Zorn, das sehe ich. Hat sie ihre Börse verloren mit all dem Geld das sie aufgespart hatte, um ihrem Liebsten eine Weihnachtsfreude zu bereiten? Oder hatte sie Streit? Ist ihr Liebster nicht mehr ihr Liebster und hat sie vielleicht sogar verlassen?

Ich weiß, in meiner Umhängtasche steckt noch eine neue Packung Taschentücher. Wenn ich mich nicht sofort entscheide, muss ich aussteigen. Blitzschnell ziehe ich das Päckchen heraus und begebe mich zu ihrem Platz. Soll ich mich neben sie setzen und einfach noch ein paar Stationen weiter fahren?

Das fand ich dann doch etwas zu aufdringlich. So strich ich sanft ein paar Male über ihren Oberarm, bis sie mich bemerkte. Dann übergab ich ihr ohne Worte das kleine Päckchen. Sie nahm es sofort an. Dabei unterbrach sie kurz ihren Schmerz und lächelte mich zaghaft an. Ich zwinkerte ihr verständnisvoll zu, drückte ihren Oberarm leicht durch den mit Daunen gefütterten Mantel und bewegte mich wieder in Richtung Ausgang.

Während sie sich nun ein trockenes Taschentuch genehmigte um abermals ihre Tränen aus den Augen zu löschen, hielt sie mir mit ihrer ausgestreckten Linken den Rest der Packung entgegen. Ich deutete ihr mit einem kurzen Kopfschütteln an, sie könne sie sich behalten. Schnell war das Päckchen in der Tasche der jungen Frau verstaut.

Ich stieg aus. Sie schaute mir nicht nach. Ich sah sie nie wieder. Ich nenne sie Lena.

© Wolfgang Radschiner 2020-04-01

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