** Leona **

Heinz-Dieter Brandt

von Heinz-Dieter Brandt

Story

Man war an die Punks gewöhnt, die durch die Stadt zogen, verwahrlost aussahen und sich durch ihre Kleidung von der Masse abhoben. Aber die Frau, die neuerdings zu dieser Szene zu gehören schien, der ging man lieber aus dem Weg. Die ungepflegten Haare, die gepiercten Lippen, die dicken Ohrringe, die Springerstiefel, die nicht zu ihr passten, schließlich die Art, wie sie mit den Menschen sprach – alles wirkte furchteinflößend bis gewalttätig und wurde selbst in einschlägigen Kreisen als störend empfunden. Sie schien eine Aussteigerin zu sein und hatte wohl einmal zu den „besseren Kreisen“ gehört. Nun trieb sie sich seit Monaten auf der Straße herum, hockte auf Bordsteinkanten, stahl Lebensmittel, schlief in Hauseingängen und versuchte nicht im Geringsten, mit irgendjemandem Freundschaft zu schließen. Kein Tag, kein Abend verging, an dem sie nicht durch die verschiedenen Milieus streifte, auf der Suche nach etwas oder jemandem. Die, die sie befragte, beendeten das Gespräch verängstigt schnell.

Dann traf sie ihn, zufällig, nachts unter einer der vielen Brücken, wo er mit Drogen handelte. Es war nicht schwer, ihm zu folgen. In seiner eleganten Kleidung stach er aus der Menge heraus. Fröhlich vor sich hin summend schlenderte er zwei Straßen weiter zu seinem Mercedes SL Cabrio. Das Geschäft war gut gelaufen.

Natürlich merkte er, dass er verfolgt wurde und überlegte, ob er der Punkerin noch etwas verkaufen konnte. Seine Vorräte gingen zwar zur Neige, aber bei den Punks war mit verschnittenem Koks immer etwas zu holen. Also wartete er. Die Straßen waren menschenleer – niemand würde den Deal beobachten – trotzdem umklammerte er aus Gewohnheit seinen Schlagring in der Hosentasche, diesmal noch fester als sonst. Er überlegte noch, ihn aus der Tasche zu ziehen, als plötzlich etwas an seinem Hals explodierte. Er drehte sich um, als ihm ein zweiter Stromstoß das Bewusstsein raubte.

Er erwachte in völliger Dunkelheit. Sein Schädel brannte wie Feuer, seine Kehle war ausgetrocknet und seine Glieder schmerzten höllisch. Was war geschehen? Wollte er dieser Punkerin nicht Koks anbieten? Mühsam erinnerte er sich. Sie war ihm auf den Fersen, als ihn ein Elektroschocker zu Boden riss. Dieses Miststück wollte ihn ausrauben. Aber wo war er? Mit gefesselten Händen und Beinen kauerte er. In einem Schrank? Eher in einem Kofferraum – dem seines Wagens – mit zugeklebtem Mund, kaum möglich zu atmen, die Nasenlöcher verklebt – offensichtlich mit Heroin. Er musste das Zeug einatmen. Wie krank musste diese Frau sein, ihm das anzutun? Er wollte schreien, aber statt eines Schreis kam nur ein Grunzen aus seinem Mund. Auch Klopfen half nichts in dieser einsamen Straße, schließlich war es Nacht. Er musste auf den Tag warten.

Zufrieden ging Leona nach Hause. Sie hatte sich an ihrer Freundin gerächt, aber sie war moralisch nicht so verkommen, ihn zu töten. Der Bartträger würde sicher bald gefunden werden. Das Heroin in seiner Nase würde ihn schädigen und hoffentlich abhängig machen.

Dass die Straße am nächsten Tag, einem Sonntag, leer blieb, hatte Leona nicht bedacht – ebenso wenig, dass sich an diesem Wochenende eine Hitzewelle aufbaute, die die Straßen auf über 45 Grad aufheizte. Der Bartträger wurde erst am Ende der folgenden Woche gefunden – ziemlich ausgedörrt.

© Heinz-Dieter Brandt 2025-01-05

Genres
Spannung & Horror
Stimmung
Angespannt