von Simona_Hartmann
„Etwas Besseres als den Tod werden wir überall finden, i-ah!“, ruft Alina und krabbelt auf allen Vieren von dem Podest hinunter. Hinter ihr krabbeln drei weitere Kinder. Eines miaut, eines bellt, eines kräht. „Psst, nicht so laut“, bitte ich die Kinder, „die anderen möchten in Ruhe lesen können.“ Die Vier krabbeln weiter und miauen, bellen, iahen und krähen im Flüsterton, so gut es eben geht, wenn man Stadtmusikant ist.
Gestern hat eine Kollegin das Märchen von den Bremer Stadtmusikanten vorgelesen. Einmal in der Woche ist „Vorlesestunde de luxe“. Bis zu zwölf Kinder dürfen geschickt werden. Die Klassen sind reihum dran. Manchmal werden Kinder geschickt, die sich ein extra Bonbon verdient haben, weil sie fleißig waren oder ihnen etwas Besonderes gelungen ist. Und andere Male werden Kinder geschickt, denen aus den verschiedensten Gründen einmal eine Stunde mit ruhiger und intensiver Zuwendung guttut. Vorgelesen wird von meiner Lieblingskollegin in Sachen Vorlesen. Sie liebt es über alles, Kindern Geschichten vorzutragen und hat eine tiefe, warm klingende Stimme, die die Kinder gut erreicht. Ganz offensichtlich, denn die Stadtmusikanten ziehen weiter um die Leseinsel. Das Podest in der Schülerbücherei ist die Leseinsel. Die Kinder finden dort Kissen, schöne Ecken und Nischen vor, um es sich mit einem Buch gemütlich zu machen.
Marietta aus der zweiten Klasse betritt den Raum und sieht sich suchend um. Melanie aus der Dritten, die einen Riecher dafür hat, wenn jemand Hilfe braucht, kommt auf sie zu: „Soll ich dir zeigen, was man hier machen kann?“ Marietta nickt dankbar. „Die Leseinsel ist da drüben. Die ist grad ziemlich voll. Aber hier ist die Schreibinsel. Guck, hier sind Stifte und Schreibpapier. Und zwar buntes, in vielen Farben, und auch große und kleine Papiere. Und hier sind kleine Kästchen. Man kann hineingreifen und drei Wörter herausziehen. Guck so. Und dazu dann eine Geschichte schreiben. Oder man kann einfach ein Wort ziehen und es mit in den Tag nehmen. Ein „Nach-Hause-Nehm-Wort“. Das mag ich. Und in dieser Kiste hier sind Gegenstände. Du holst dir eine Sache raus und dann kann man eine Geschichte schreiben, zum Beispiel zu einer Gabel. Oder zu einer kleinen Trompete. In einer anderen Kiste sind auch Dinge, aber man kann sie nicht sehen. Die muss man fühlen, und dann dazu schreiben. Das finde ich am aufregendsten. Wollen wir das machen?“ Marietta nickt. Die beiden Mädchen tasten nach Gegenständen, ziehen eine Sanduhr und eine kleine Luftmatratze in Puppenhausgröße aus der Kiste. „So eine kenne ich, die hat meine Tante auch, und damit waren wir auf dem See, und dann…“, sprudelt es aus Marietta heraus. Die Mädchen versinken gemeinsam in der Luftmatratzengeschichtenschreibblase.
Umut hat lange in der Ecke gesessen, mit der Nase im „Magischen Baumhaus“. Jetzt steht er auf und geht zum Ausgang. „Umut, willst du noch ein Wort ziehen?“, frage ich und deute auf die Wörterbox. Umut schüttelt den Kopf. „Nein, heute nicht“, antwortet er und geht weiter. Dann dreht er um und meint: „Aber ich möchte eins dazu tun.“ Er schreibt ein Wort auf eines der bereitliegenden Kärtchen. „Magst du mir dein Wort verraten?“, frage ich behutsam. „Ja. Zaubernebel“, sagt er leise, fast andächtig. Innerlich scheint er noch ganz im Zaubernebel auf dem Weg ins Tal der Könige zu sein.
© Simona_Hartmann 2024-01-21