Leseprobe „ANGST und Ich“: Vorwort

SabineMai

von SabineMai

Story

Ich schreibe diese Zeilen in einem Flugzeug.

Vor einigen Jahren wäre dieser erste Satz unmöglich gewesen, denn ich hatte mir bereits als Kind geschworen, niemals in ein Flugzeug zu steigen. Allein das Geräusch und der Anblick einer über mir fliegenden Maschine erzeugte Unwohlsein bis hin zur blinden Panik.

Flugzeuge brachte ich einen Großteil meines Lebens vor allem mit dem Tod in Verbindung. Schon immer hatte ich eine blühende Fantasie, die sich Katastrophen in allen Farben ausmalen konnte. So lief in meinem Kopf mein privater Kinofilm, der immer schlecht ausging. In Endlosschleife zeigte er mir Horrorszenarien: Flugzeuge lassen Bomben auf Städte fallen. Sie fliegen in Gebäude. Sie stürzen ab und zerbrechen in alle Einzelteile. Sie werden von Terroristen entführt. Das Fazit dieses Genres lautet: Flugzeuge sind GEFÄHRLICH.

Dass tagtäglich tausende Flüge stattfinden, und alle Menschen, die ich kenne, bisher immer sicher an ihrem Ziel angekommen sind, blendete ich gekonnt aus. Denn egal wie vermeintlich sicher das Fliegen sein sollte, es blieb immer die eine Frage: was, wenn? Was, wenn ausgerechnet mein Flugzeug abstürzen wird?

Viel später begriff ich, dass meine Angst vor Flugzeugen eine übertragene Angst ist. Meine Mutter hat mir diese und andere Ängste praktisch in die Wiege gelegt und sie in meiner Kindheit gefüttert. Dass ich mich dieser Angst heute stelle und jetzt in diesem Flugzeug sitze, ist das Ergebnis jahrelanger Arbeit.

Die Flugbegleiter erheben sich von ihren Sitzen und der Service beginnt. Das Anschnallzeichen ist vor einem Moment mit einem leisen „Bing“ ausgegangen. Ich strecke die Beine vor mir aus so weit es geht und mache Dehnübungen, die mir das Gefühl geben, die Kontrolle über meinen Körper zu haben.

Ein leichtes Ruckeln der Maschine kündigt an, dass wir durch die Wolkendecke brechen. Ich bin angespannt, doch nicht zu sehr. Zumindest schwitze ich nicht mehr Bäche und es fließen auch keine Tränen mehr. ANGST sitzt auf dem Beifahrersitz, wo sie hingehört. Nicht konstant panisch, sondern vorsichtig abwartend. Das ist ein Fortschritt.

Jahrelang habe ich mir Techniken gegen die Flugangst antrainiert. In meinem Regal stehen drei Bücher über Flugangst. Ich bin Mitglied von Selbsthilfegruppen auf Facebook. Und ich habe mir jede erdenkliche Dokumentation über Flugsicherheit angeschaut. Medienberichte vermeide ich wie die Pest. Sie schaukeln jeden kleinen Vorfall zur beinahe Katastrophe hoch.

Vorsichtig werfe ich einen Blick aus dem Fenster. Ein Stück reines Himmelblau und weiße Wolkenfetzen ziehen vorbei. Der Anblick nimmt mir den Atem. Fliegen kann wunderschön sein. Vielleicht kann ich irgendwann die Aussicht genießen, ohne die ständige Anspannung und das ständige Warten darauf, dass vielleicht doch noch irgendetwas passieren wird.

Ich bestelle mir einen schwarzen Tee mit Milch und schreibe weiter von Zeiten, in denen ich von den Wolken nur träumen konnte.

© SabineMai 2024-03-13

Genres
Romane & Erzählungen, Biografien
Stimmung
Emotional, Hoffnungsvoll, Inspirierend, Reflektierend, Angespannt
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