Leseratte

Sonja M. Winkler

von Sonja M. Winkler

Story

Es ist schon sonderbar, dass Vergangenes oft in der Gegenwart auftaucht, und völlig unerwartet kommen Erinnerungen hoch. UnlĂ€ngst geh ich an einer Buchhandlung vorbei und sehe „Puckerl und Muckerl“ im Schaufenster, und sofort war ich wieder in der ersten Klasse Volksschule.

Sobald ich lesen konnte, hab ich alles gelesen, was mir in die HĂ€nde fiel. Gerne las ich die MĂ€rchen in Fraktur, die hinten im Lesebuch standen, dann „RĂŒbezahl“ und „MĂŒnchhausen„. In der Schule gab’s zur LeseertĂŒchtigung „Kleines Volk„, ein schmales Heftchen, das auch Wissenswertes enthielt. Meine BrĂŒder, die jĂŒnger sind als ich, lasen die „Spatzenpost„.

Ab dem Alter von zehn nahm das Lesen Ausmaße an, ĂŒber die ich mich rĂŒckblickend nur wundere. Von meinem Cousin borgte ich mir Enid Blytons „FĂŒnf Freunde“ aus, VorgĂ€nger von Thomas Brezinas „Knickerbockerbande„, deren AnhĂ€nger dann mein Sohn wurde, Anfang der 1990er-Jahre.

Zu besonderen AnlĂ€ssen wĂŒnschte ich mir einen Gulla-Band. Eine herzzerreißende Geschichte, in der Gulla, ein Waisenkind, eine Ersatzfamilie findet. Sie muss fest zupacken, aber sie erweist sich als ein sehr tĂŒchtiges, heute wĂŒrde man sagen: resilientes MĂ€dl. Ich war sĂŒchtig nach „Gulla„.

Meine Mutter hielt im Schlafzimmer die Weihnachtsgeschenke fĂŒr uns Kinder versteckt. Da schlich ich einmal, als sie außer Haus war, ins Schlafzimmer und stierlte im WĂ€schekasten so lange herum, bis ich fĂŒndig wurde. Mutti hĂ€tte nicht erwĂ€hnen dĂŒrfen, dass sie bereits vorm 1. Adventsonntag einen Gulla-Band besorgt hatte. Das Problem war, dass ich dann am Tag der Bescherung Freude heucheln musste, weil ich ja das Buch bereits ausgelesen hatte. „Gulla, am Ziel„.

Meine fast gleichaltrige Cousine, die im Nebenhaus wohnte, bekam den „Trotzkopf“ geschenkt. Wir tauschten die BĂŒcher untereinander aus. Unsere LektĂŒre war GesprĂ€chsthema Nummer eins. Ausgehend von den Geschichten, in die wir versanken, dachte ich mir Fortsetzungen aus, in denen wir beide die Hauptrolle spielten.

Wir verkleideten uns als Prinzessinnen, hĂŒllten uns in Muttis alte BettĂŒberwĂŒrfe, die lindgrĂŒn waren, Fransen hatten und von einem Goldfaden durchwirkt waren. Wir lustwandelten im Obstgarten der Großeltern, im Bewusstsein, unsere GesprĂ€che wĂŒrden sich um die wichtigsten Themen der Welt drehen. Wir rĂ€tselten, wie sich der erste Kuss anfĂŒhlen und wo er stattfinden wĂŒrde, auf einer Parkbank, und nur der Mond wĂŒrde Zeuge sein. Wir gelobten, ein BrĂŒderpaar zu heiraten und gemeinsam in ein Haus zu ziehen. NatĂŒrlich kam alles anders.

In der Unterstufe verschlang ich Schneider-BĂŒcher. Schneider, so hieß der Verlag. Immer wenn ich meine Mutter ins Passage-Kaufhaus begleitete, trödelte ich, sobald wir ins Erdgeschoss kamen. Denn dort, in der Zeitschriftenabteilung, gab es sie, die MĂ€dchenbĂŒcher, zu denen es mich hinzog. Sie hießen „Nina, so gefĂ€llst du mir“ oder „Das Herz auf dem rechten Fleck“. Die LektĂŒre schenkte mir Trost und BestĂ€tigung. Vor allem aber trĂ€umte ich mich in eine Welt, in der die Menschen ihr Leben meistern und alles ein gutes Ende findet.

© Sonja M. Winkler 2020-06-10

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