Letzte S-Bahn

Jennifer Jähniche

von Jennifer Jähniche

Story

„Bleib ganz ruhig, ich bin ja bei dir.“
Angespannt saß ich um 23:45 Uhr im S-Bahn-Waggon und starrte auf den Boden.
„Nur leider nicht physisch, sondern nur mental“, flüsterte ich in mein Smartphone. Ich wollte nicht auffallen, wollte am liebsten ein unsichtbarer Gast in der fast leeren S-Bahn sein.
„Aber immerhin!“, entgegnete er.

Ich hatte heute Abend eine Freundin in der Stadt besucht und wie es nicht anders zu erwarten war, blieb ich länger als ich mir eigentlich vorgenommen hatte. Ich blieb so lange, bis ich noch gerade rechtzeitig die letzte Bahn in Richtung Speckgürtel bekommen habe. Speckgürtel, da wohne ich – im suburbanen Raum der Hauptstadt.
„Bist du noch da? Ist alles ok?“, erkundigte er sich. Nein, nichts war ok.
„Ja, lenk mich bitte einfach nur ab“, bat ich ihn, um mich auf andere Gedanken zu bringen.

Er fing an, mir von seinem Tag zu erzählen, was er erlebt, gedacht und gefühlt hatte. Ich wollte wirklich zuhören, doch ich konnte nicht. Mit jeder Sekunde, die ich in dieser Bahn verbrachte, wurde ich ungeduldiger. Meine eigenen Gedanken übertönten die Worte, die mir aus meinem Smartphone entgegen hallten. Ich unterbrach ihn: „Hier sind noch zwei weitere Männer im Waggon und die machen mir irgendwie Angst.“
Ich versuchte, ruhig zu atmen und mir klarzumachen, dass meine Angst unberechtigt sei. Ich hob meinen Kopf, um meine Mitfahrer genauer zu betrachten.
Einer von ihnen saß am Ende des Waggons, sodass ich schwer seine Gestalt ausmachen konnte. Der andere saß nur sechs Bankreihen entfernt und hatte fette Kopfhörer auf den Ohren. Seinen Blick richtete er zum Fenster, so konnte ich nur sein Seitenprofil erkennen: Mann mittleren Alters, dunkelbrauner Zopf, dunkler Bart, dunkle Kleidung.

Das war alles, was ich aus der Entfernung vernehmen konnte. Sie gaben mir also keinerlei Gründe dafür, Angst haben zu müssen, doch trotzdem verspürte ich Unbehagen. Ich vermutete, dass ich mich wohl einmal zu oft von negativen Fernsehnachrichten über Entführungen oder sonstige Verbrechen beeinflussen ließ. Und gleichzeitig fielen mir die selten unbehaglichen Begegnungen mit Menschen in der Nacht wieder ein, die ihr Übriges dazu beitrugen. Ich bemerkte, wie der eine Mann vom anderen Ende ausstieg. Noch eine Station bis zur Endhaltestelle.

Während mein Gesprächspartner mich weiter mit Geschichten beschallte, stand ich auf und lief zur Tür, um möglichst viel Distanz zwischen mir und dem anderen zu gewinnen. Mein Herz rutschte mir in die Hose, als der Mann plötzlich aufstand und denselben Weg wie ich einschlug. Ich drehte meinen Kopf weg und starrte aus dem Fenster. Ich hörte jedoch, wie seine schlürfenden Schritte immer näher kamen, bis sie schließlich fast unmittelbar neben mir Halt machten.

„Entschuldigung, Sie haben Ihren Schal auf dem Weg verloren.“

Ich tastete meine Jacke ab und musste feststellen, dass ich ihn tatsächlich nicht mehr hatte. Ich flüsterte ein leises „Dankeschön“ und verließ beruhigt die S-Bahn.

© Jennifer Jähniche 2021-05-25

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