von Celin Piotrowsky
Es vergehen nur wenige Wochen bis es wieder alltäglich wird, dass J mich von der Schule abholt. Am Anfang fahren wir noch auf verschiedene Parkplätze in irgendwelche Wälder, um bloß nicht von Bekannten gesehen zu werden. Nach kurzer Zeit fahren wir regelmäßig in verfallene Räumlichkeiten mit Schlafgelegenheit, um der Außenwelt zu entkommen und die Zweisamkeit auszukosten. Die Zweisamkeit birgt jedoch ihre Probleme. Ich fühle mich komischerweise nicht ganz so wohl bei meinem Helden. Sprüche wie >Auf den Videos sahst du immer so aus, als würde es dir gefallen<, helfen mir nicht dabei, das Geschehene zu vergessen und hinter mir zu lassen. Vielleicht hat er mich ja tatsächlich gefilmt. Ich würde es niemals herausfinden und selbst wenn ich ihn anzeigen wollen würde, die Dateien waren ja nun gelöscht. Aber mich hat nun jeder gesehen. Und was ist eine Frau, die jeder schon mal hatte? Genau. Eine Schlampe, eine Hure. Mehr war ich nun nicht mehr wert und da musste ich jetzt erst einmal mit umgehen können. J macht das Ganze ein wenig einfacher für mich. Er zeigt mir, dass ich noch liebenswert bin. Aber auch nur von ihm. Weil er so ein großes Herz hat. Weil er so ein toller Mann ist. Weil er mich sieht mit all meinen Facetten und guten Seiten und mich genau so liebt, wie ich bin.
Der Tag ist gekommen. J und ich sitzen im Vereinshaus und trinken wie immer instant Kaffee. Das Kaminfeuer brennt, die Lichter sind an und draußen wird es langsam dunkel. J legt die SD-Karte fordernd auf den Tisch >Bist du dir sicher, dass du sehen willst, was auf dieser Karte ist?<, fragt er mich prüfend. >Ich muss es einfach sehen. Ich muss sehen, was du gesehen hast<. Er nimmt meine Hand >Mein Engel, überlege dir das gut. Ich glaube nicht, dass das gut für dich ist. Schau doch, wie schlecht es dir ging. Glaube mir, du bist nicht stark genug um diese Dinge wirklich zu sehen. Wer weiß, was du tun wirst. Was mit dir passieren wird<. Ich überlege eine Weile. Will ich mir diesen Schmerz wirklich antun? Ich habe mein ganzes Leben gelitten und jetzt sitzt hier ein Mann, der mich liebt. Er sorgt sich um mich und ich will mir das alles kaputt machen? Aus Neugierde? Ich glaube nicht. Seine Hand hat sich mittlerweile von meiner gelöst und er schaut auf den Tisch, während er seinen Kaffee schlürft. J und C sagen beide das Gleiche, vielleicht haben sie recht. Vielleicht bin ich nicht stark genug, mir diese Dinge anzuschauen. Aber ich leide. Ich leide und ich weiß gar nicht warum. Weil ich mir auch nach tiefstem Durchforsten meiner Erinnerungen kein Szenario vorstellen kann, indem mein Ex uns wirklich filmt. Ich habe so einen abgrundtiefen Hass auf meinen Ex, ich muss doch Beweise finden, die meine Gefühle rechtfertigen. Diese Beweise liegen hier vor mir, auf diesem Tisch. Aber J hat recht. Vielleicht vertrage ich es nicht. Meine Wunden sind immer noch auf und sie gehen so tief, noch mehr Schmerz vertrage ich glaube ich nicht. Ich lasse die Frage nicht zu mir durchdringen, ob das denn auch wirklich stimmt, was J da sagt. Ob es die Dateien denn auch wirklich gibt. Ich kann J nicht hinterfragen. Wenn er das sagt, dann ist das so. Ich stehe auf, öffne die Kamintür und werfe die SD-Karte in das lodernde Feuer. Niemand würde den Inhalt nun jemals zu Gesicht bekommen. Sie sind nun für immer erloschen. J ist sichtbar erleichtert. Er nimmt mich in den Arm und schenkt mir ein Gefühl des Ankommens. Ich habe die richtige Entscheidung getroffen. Oder?
© Celin Piotrowsky 2024-08-14