von Caroline
Ich war auf den Anruf einfach nicht vorbereitet. Vor meinem inneren Auge spielte ich die Choreografie zum x-ten Mal durch. Die Proben waren kurz und chaotisch gewesen, und die Neueröffnung des Casinos nun Mal keine Kleinigkeit. Als mein großes, gelbes Alcatel Mobiltelefon läutete, dachte ich zuerst, es seien meine Eltern, die soeben in Gran Canaria angekommen sein mussten. Denn ich hütete für eine Woche die Hunde und das Zuhause. Doch ich täuschte mich.
Es war das Krankenhaus. Die knappe Information traf mich wie ein Schlag. Ein stumpfer, kalter Schlag. Gleich gefolgt von einer Glaswand, die sich schützend vor meine Wahrnehmung schob. Wie konnte das sein?
Noch gestern hatte ich dich auf der Station besucht. Es ging dir gut. Du warst zum Scherzen aufgelegt. Erzähltest, dass du deine Tochter, meine Mutter, mit gutem Gewissen in den Urlaub geschickt hattest. Wir hatten ein wenig über den Auftritt geplaudert, den ich am folgenden Tag haben würde. Eine „New York, New York“ Sinatra Nummer mit viel Gold und Glitzer. Und du hattest dich an deine Jugend in Berlin erinnert, den Friedrichstadtpalast, glaube ich. Kurze, glückliche Backfischjahre vor dem Krieg. Kaum jünger, als ich es nun war.
Vielleicht hätte es mich stutzig machen müssen, als du mir an der Milchglaswand, die das Ende deiner Krankenstation markierte, nochmals nachgerufen hast. Du hast meinen Namen gerufen und dabei fröhlich gewinkt. Ein leicht schelmisches Lächeln auf den Lippen, entspannt und froh. Ich hatte keine Ahnung.
Anstatt dich also nochmals zu besuchen, erledigte ich mechanisch alles Nötige. Informierte meine Eltern in Spanien, lief wie ein Zombie durchs Haus. Zerriss in meiner Zerstreutheit sämtliche Nylonstrümpfe, die ich für den Abend brauchte.
Die Scheinwerfer blitzten auf. Der Vorhang hob sich. Nie fiel mir das Lächeln schwerer. Als Franky Boy „Start spreading the news, I’m leaving today…“ anstimmte, warf mir meine Kollegin einen sanften Blick zu, und ich schluckte den Kloß im Hals mit aller Kraft hinunter. Bestimmt stolperte ich nicht mit den Absätzen, weil du mich bei jedem Schritt begleitetest. In der Schlusssequenz flogen die Beine von uns Tänzerinnen mit hohen Kicks in die Luft. Ich blickte in den dunklen Saal vor mir und war gänzlich anderswo.
Doch plötzlich sah ich dich. Du saßt an einem der Tische. Mit einem Glas trockenem Sekt, den du spätabends gerne auch Mal alleine getrunken hattest, um Erfolge und das Leben zu feiern. Ein verträumtes Lächeln umspielte dein Gesicht „These little town blues, they’ve all melted away, I’m gonna make a brand new start of it…“.
Ja, das tatest du, liebe Oma. Einen lichtvollen Neubeginn anderswo. Meine Tränen flossen erst nach Mitternacht, als ich in das leere Haus zurückkehrte. Doch deine Energie und dein Abschiedslächeln an der Milchglaswand trösteten und begleiteten mich, und tun es liebevoll bis heute.
© Caroline 2021-04-16