Liebe Angst,…

Maya Schulz

von Maya Schulz

Story

Liebe Angst,

Du bist jetzt schon so lange meine Begleiterin und ich glaube, es wird Zeit, dass wir sprechen. Du kommst in so vielen Farben und Formen, zu jeder Zeit und jedem Ort. Wo ich bin, bist auch Du. Du schaffst es, jeden noch so schönen Moment kaputtzumachen. An meinen schlimmsten Tagen setzt Du noch einen drauf und an meinen besten Tagen sorgst Du dafür, dass ich mich abends trotzdem frage, was ich falsch gemacht habe, welche Gefahren ich vielleicht übersehen habe. Deinetwegen bin ich so oft schlaflos, streite mich völlig sinnloserweise oder weine stundenlang. Ganz egal, was ich erlebe, wer um mich ist oder wo ich mich befinde: Du bist einfach immer mit von der Partie. Du bist die lästige Freundin, die eigentlich keiner mag, weil sie nur schlechte Stimmung verbreitet, die sich aber trotzdem keiner traut, auszuladen. Aber ich würde Dich so gerne ausladen. Weil es mir ohne Dich so viel besser geht. Weil ich so viel freier und unbeschwerter bin. Weil ich mein Leben genießen will.

Ich will mir nicht bei jeder Gelegenheit anhören müssen, was alles schiefgehen könnte. Welche schlimmen Gefahren und Risiken überall lauern, wie ich bald tot sein könnte, alle meine Freunde mich verlassen oder ich mich vor einer Gruppe Menschen völlig blamiere. Du hältst mich zurück, Du machst mich klein. Du hinderst mich daran, die Version von mir zu sein, die ich sein will. Ich wünschte wirklich, statt mich zurückzuhalten, würdest Du Dich zurückhalten und mir nicht ständig Deine Sorgen mitteilen, entgegen aller Wahrscheinlichkeiten – die haben Dich schließlich sowieso noch nie interessiert. Es ist Dir völlig egal, ob eine Situation mit 99-prozentiger Wahrscheinlichkeit nicht eintritt, wir müssen trotzdem darüber diskutieren. Und diese Diskussionen rauben mir so wahnsinnig viel Energie. Aber wenn ich nicht mit Dir diskutiere, dann überwältigst Du mich einfach mit all diesen angstvollen Gedanken, überschwemmst mich damit, bis ich nicht mehr klar denken kann. Du tust mir nicht gut, aber trotzdem schaffe ich es nicht, mich von dir zu trennen. Immer, wenn ich denke, dass ich Dich vertrieben habe, tauchst Du wieder auf, aus dem Nichts und mischt Dich in mein Leben ein.

Ich will Dich gar nicht als Freundin haben. Es kommt mir vor, als wären wir Kindheitsfreunde, die sich auseinandergelebt haben. Uns verbindet schon lange nichts mehr. Ich halte nichts davon, solche Freundschaften aufrecht zu erhalten, ich will meine Zeit lieber mit Dingen füllen, die mir guttun, mich glücklich machen. Ich wünsche mir wirklich, dass wir diese Freundschaft beenden und Du irgendwann nur noch eine entfernte Bekannte bist, die sich zwischendurch meldet. Und dass ich dann froh bin, dass Du nicht mehr jeden Tag bei mir bist.



© Maya Schulz 2023-11-13

Genres
Romane & Erzählungen, Lebenshilfe
Stimmung
Dunkel, Emotional, Hoffnungsvoll, Angespannt
Hashtags