Liebe bei Nacht, Leipzig die Stadt

Tom Handrick

von Tom Handrick

Story
Leipzig 2025

Es ist zwei Uhr nachts und ich lag noch wach. Ich beschloss, mit dem Fahrrad durch das kleine Stadtviertel zu fahren. Auf der Suche nach einem Gefühl von Geborgenheit. Ich fuhr unweigerlich die schlecht asphaltierte Straße entlang, auf der ich einst täglich fuhr und jedes Schlagloch auch bei Dunkelheit vorhersehen konnte und auswich. Die kleinen Nebenstraßen von Leipzig sind meine Lieblingsstraßen. Nur hier kann man das echte Leben beobachten.

Wenn Jugendliche ihren ersten Umzug mit einem viel zu kleinen Transporter planten und gemeinsam ein Ziel verfolgen: »Alle Möbel von A nach B transportieren, ohne sie auseinanderbauen zu müssen.« Hauptsache man muss keine Schrauben sammeln. Man hätte zwar einen kompakten Transport, aber gleichzeitig auch einen Nervenkitzel. Verliert man den Beutel der tausend unsortierten Schrauben, was eine klassische 50:50 Chance beim Umzug ist, hat man aus den ersten mühsam zusammengesuchten Möbeln praktische und edle, wenn auch nutzlose Bretter für die erste gemeinsame Wohnung gezaubert.

Drei Querstraßen weiter setzt der Samariter-Bund eine ältere Dame so behutsam wie eine David-Vase auf den Gehsteig ab. Die Dame kehrt in ihre eigene Wohnung zurück – gesund, so wahr Gott ihr helfe. Die Szene aus warmen Sommerstrahlen, die durch die großen grünen Blätter der Allee auf die Fassaden der Häuser fallen, vermitteln ein Gefühl von »That’s The Moment!« Genau hier sollte man auf sein erstes Date warten. Hier sollte der erste Kuss zwei Lippen verbinden. Und nur hier sollte man, kniend vor der zweiten großen Liebe stehen und die größte aller Fragen stellen: »Willst du mit mir zusammenziehen?«

Vier Straßen weiter liegt ein Fahrradfahrer quer über der Kreuzung verteilt, wahrscheinlich eine Fahrerflucht nach einem »Links vor Rechts, oder so« – Konflikt. Aber niemand kommt, um ihm zu helfen. Die Leute gehen mit verachtendem Blick vorüber und scheren sich einen Dreck, denn er trägt keinen Helm. Was für ein schlechtes Vorbild, denken sich alle. Dabei gerinnt sein Blut langsam vor sich hin auf den Kopfsteinpflastern der Gesellschaftserwartungen.

Die Nacht wärmt meine Hoffnung auf das Glück. Ich biege zweimal ab, und langsam geht die Sonne über den Dächern der Stadt auf. Ich setze mich auf den Bordstein zwischen zwei parkenden Autos und starre in die unteren Fenster eines Wohngebäudes. Hinter einem der Fenster ertönt ein alter Radiowecker. Hinter den zugezogenen Gardinen wird nach und nach das Licht eingeschaltet.

Es ist fünf Uhr morgen. »Auch wenn du es nicht fühlst – ich fühle es für uns beide. Und ich bin froh mit dir in den Tag zu starten«, flüstere ich leise und stecke mir dabei eine Zigarette in den Mund. Dann höre ich wie eine alte knarrende Holztür mit viel zu viel Schwung zugeschlagen wird. Das war mein Zeichen. Ich springe auf, ziehe mein Fahrrad unter meinen Schoß und fahre hastig, wie auch planlos, in die nächstbeste Straße. Mein Herz pocht laut vor Aufregung, als ich mich zu Hause in mein Bett fallen lasse und mit dem Fahrradhelm auf dem Kopf einschlafe.

© Tom Handrick 2025-05-17

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Emotional, Hoffnungsvoll, Unbeschwert, Hopeful
Hashtags