von Ellenoir
„Schau mal, ich hab‘ ein Smiley für mein Referat bekommen!“, erzählte mir Miro freudig, als ich ihn von der Volksschule abholte. In den vergangenen Wochen, in denen Claire Überstunden leisten musste, war er derjenige gewesen, der mir einen Grund gab, morgens aufzustehen. Claires Lippen hingegen waren an jenen Tagen perfekt geschminkt gewesen, als sie spätabends mit zerzaustem Haar die Tür zu unserer Wohnung öffnete.
„Das ruft nach einem Eis!“, lobte ich ihn. Es war außergewöhnlich heiß in Wien, da erschien mir ein Eis eine passende Abkühlung.
„Wann kommt Mama heute nach Hause?“, fragte Miro, während wir gemütlich zum Eissalon spazierten.
„Zum Abendessen ist sie bestimmt da“, log ich.
Wie in einem schlechten Film vibrierte kurz darauf mein Handy. Der Name „Schatz“ leuchtete auf dem Display und ich wusste, dass ein Anruf von Claire zu dieser Stunde kein gutes Zeichen war.
„Ja?“, nahm ich den Anruf zögernd entgegen. „Hey, ich muss heute wieder länger bleiben. Martina ist das Mittagessen wohl nicht gut bekommen und sie musste nach Hause. Jetzt bleibt ihr Papierkram an mir kleben. Gib Miro einen Kuss von mir, ok? Ich muss jetzt auflegen, Jerry kommt gerade rein“, bevor ich etwas erwidern konnte, hatte Claire schon wieder aufgelegt.
Jerry, das musste ich neidlos anerkennen, könnte genauso gut als Model arbeiten, anstatt stellvertretender Abteilungsleiter eines mittelständischen Kommunikationsunternehmens zu sein. Aufgrund seines Aussehens lebte er auch noch mit Mitte Vierzig wie ein Junggeselle Anfang 20. Zumindest was Frauen betraf, wenn man den Gerüchten, die über ihn kursierten Glauben schenken durfte.
Dass meine Claire, mit der ich in über 14 Jahren Beziehung wegen meiner Depressionen mehr Tief- als Höhepunkte erlebt habe, auch schon einmal nackt in seinen muskulösen Armen lag, wollte ich nicht wahrhaben. Auch wenn die SMS, die ich vor einer Woche in ihrem Handy entdeckte, etwas anderes sagten.
„War das Mama?“, Miro sah mich erwartungsvoll an. „Ja, sie schafft es leider doch nicht zum Abendessen. Aber sie hat versprochen, dass wir am Wochenende ins Kino gehen und den neuen Minions-Film schauen“, in diesen Momenten erschien es mir wichtig, unserem Kind nichts von meiner Vermutung anmerken zu lassen. Also dichtete ich hier und da Kleinigkeiten zu den regelmäßigen Abendessens-Absagen hinzu.
„Sorry, ich dachte ich schaffe es früher raus aber mit dem ganzen Personalausfall und…“, Claires Ausrede wurde durch einen vorbeifahrenden Krankenwagen übertönt, als sie kurz nach 22 Uhr die Wohnungstür aufsperrte.
„Hat Miro vorm Schlafen gehen Zähne geputzt?“, fragte sie mich ins Wohnzimmer rufend, während sie sich in der Küche ein Glas Wasser einschenkte.
Als sie sich schließlich neben mich aufs Sofa setzte, fielen mir wieder ihre perfekt geschminkten Lippen und ihr hochgestecktes Haar auf, das sie heute Früh, als sie das Haus verließ, noch offen getragen hatte. Ich wusste, dass ich nicht mehr länger warten würde.
© Ellenoir 2022-06-20