Liebes Tagebuch, das ist kein dummes Zeug

Julia Bruggner

von Julia Bruggner

Story

Ich rieche den Duft einer frisch gemĂ€hten Wiese. Ich fĂŒhle, wie mich eine kalte Prise des Windes streift. Ich höre das Rascheln der BĂ€ume und stelle mir vor, wie sie sich sachte im Rhythmus des Windes wiegen. Ich genieße diesen Moment, bis die Stimme meiner Oma die Stille durchbricht. Ich öffne die Augen, wir sehen uns an. Sie lĂ€chelt. Ich lĂ€chle, als ich den Kuchen in ihrer Hand sehe. Hastig springe ich auf und renne barfuß ĂŒber die Wiese. Das Gras fĂŒhlt sich warm und weich an. Unter dem Apfelbaum in Omas Garten ist eine kleine Sitzgarnitur aufgestellt. Es ist wunderschön hier. Ich erinnere mich an den Tag, an dem wir das kleine BĂ€umchen gepflanzt haben und bin jedes Mal aufs Neue erstaunt, wie groß es nun ist.

Immer schön gießen und pflegen, hatte meine Oma mir erklĂ€rt, nachdem wir ihn gesetzt hatten. Ich bin bis heute beeindruckt, wie gut sie sich mit all den Pflanzen auskennt. Ich lerne viel von ihr und will irgendwann genau so einen Garten haben, wie diesen. So prĂ€chtig. So farbenfroh. So liebevoll.

„Bitte schön“, sagt Oma. Ich habe nicht mitbekommen, wie sie mir das StĂŒck auf den Teller stellte. Ich hebe meinen Teller an und betrachte den Kuchen. Apfelkuchen. Sie kennt mich.

Schon der erste Biss lĂ€sst mich vor Freude seufzen. Wenn meine Oma eines konnte, dann war es zu backen. Oft erzĂ€hlte sie mir, wie gerne sie ihr eigenes kleines CafĂ© gehabt hĂ€tte. Dann malten wir uns gemeinsam die Speisekarte aus und entwarfen PlĂ€ne, wie es aussehen wĂŒrde. Wir hatten so viele Ideen. Keine davon wĂŒrde je von uns umgesetzt werden.

„Hilfst du mir spĂ€ter noch die Blumen zu gießen?“ reißt Oma mich aus den Gedanken.

„Mhm“, erwidere ich, weil ich mir gerade ein großes StĂŒck Kuchen in den Mund geschoben habe.

„Die Rosen vorne am Hauseck haben LĂ€use. So eine Plage. Ich habe gelesen, dass man Zwiebeln anpflanzen kann, um BlattlĂ€use zu vertreiben.“

„Also pflanzen wir Zwiebeln an?“

„Nein.“ Meine Oma lacht. Ich weiß nicht, warum. Ich grinse, weil ich es liebe, sie so zu sehen.

Ich schlage das Buch zu und schließe meine Augen. Ich erinnere mich an diesen Tag. In diesem Moment spĂŒre ich meine Oma bei mir, obwohl sie lĂ€ngst FlĂŒgel hat. Ich fahre mit meiner rechten Hand ĂŒber den ledernen Einband meines Tagebuchs. All meine Erinnerungen sind dort festgehalten. Du, liebes Tagebuch, erhĂ€ltst sie am Leben – Meine Vergangenheit. Die blaue Tinte meines FĂŒllers lĂ€sst die leeren weißen Seiten lebendig werden. Liebes Tagebuch, das ist kein dummes Zeug. Das ist mein Leben.

© Julia Bruggner 2023-09-11

Genres
Romane & ErzÀhlungen