von Musenzeit
„Hey, langsam!“ Von der Bank aus hattest du ihn gut im Blick, deinen Ur-Urenkel, der so gerne an deinen Händen dort mit dir herum hopste. Dort, wo der Quittenbaum sich dick und schwer um das Terrassengeländer rankt, saßen wir oft zusammen, mit Blick auf den Garten.
Du hast mit deiner ruhigen Stimme der Altersweisheit gesprochen, oft hast du uns in unseren engagierten Diskussionen auch nur zugehört. Besonders in den letzten Jahren. Ich sah es in deinen Augen, aber du schwiegst, warst uns gegenüber tapfer. Wo waren deine Gedanken? Das Gehen fiel dir langsam schwerer.
Oma war dein Liebes-Anker, deine große Nachkommenschaft dein Hafen. Alles blieb so im Wohnzimmer, wie Oma es dekorierte, obwohl du selbst keinen Wert darauf legtest. Die Pullover und Jacken, die sie dir strickte, trugst du täglich. Unmengen an Geschirr gab es, denn Oma bewirtete so gerne Gäste, besonders an Weihnachten. Das kleine Zimmer füllte sich dann bis in die letzte Ecke. Auf einem Foto lächelst du sie verliebt an, als sie gerade in meine Kamera strahlte, die Urenkelin auf ihrem Schoß. Wir saßen eng beieinander auf den langgestreckten, gegenüberstehenden Sofas, auf denen die Kleinsten hinter unseren Rücken herum hopsten und wir uns über Gott und die Welt unterhielten, denn du hattest einen wachen Geist und ein breites Interesse. Weihnachten wird nun wieder anders.
Wärst du unter günstigeren Bedingungen aufgewachsen, wärst du vielleicht Arzt oder Professor geworden. Als deutsches Kind in den Kriegszeiten auf dem rumänischen Dorf war dein Weg anders. Mit 17 Jahren hast du, wie unzählige andere Menschen, für die Unvernunft anderer in der russischen Zwangsarbeit beinahe dein Leben gelassen. Dein Dank an die Frauen, die dir dort bei der schweren Arbeit im Kohlebergwerk halfen, klingt noch in meinen Ohren. Deine Genügsamkeit hätte dir das Leben gerettet: „Ich war nie ein großer Esser, ich konnte durchhalten.“ Das hast du uns vorgelebt und bewiesen. Jeden Tag hast du das erledigt, was es zu tun gab. Immer gearbeitet, egal, wo du warst. Das Rentenalter war für dich nur ein Übergang in andere Tätigkeiten, die deine Tage voll ausfüllten.
So warst du für mich ein Herzarzt und Professor des Lebens, der Menschen, Geschichte und die Natur mit Liebe und Verstand lebenslang studierte und achtsam pflegte.
Ich sehe dich mit Omas Medi-Box vor mir, wie du für sie die Tablettenration angerichtet hast in ihren letzten Jahren. Dein täglicher Liebesakt für sie, achtsam und sorgfältig. Du wusstest, dass sie sich sonst selbst vergessen hätte, in ihrer mütterlichen Fürsorglichkeit für die Familie. Als sie weinte und klagte, weil sie die Schmerzen plagten, die sie viele Jahre nach dem Unfall ertragen musste, hast du sie zum Durchhalten ermutigt.
Zusammen lagt ihr in unserem Familienhafen, eure prachtvoll ausgestatteten Segelyachten. Oma segelte schon voraus. Am Samstag bist du, Opa Georg, ihr im Schlaf gefolgt. Dein Herz war zu müde geworden. Bitte grüß‘ Oma von mir. Du fehlst.
© Musenzeit 2021-12-08