Liebesbrief an ein vergessenes Satzzeichen

leilaellawhatever

von leilaellawhatever

Story

Semikolon. Bitte was? Eine Reaktion, die ich immer wieder bekomme, wenn ich mich darüber echauffiere, dass heute noch kaum jemand Gebrauch davon nimmt. Dass nur noch die wenigsten die Ausdruckskraft dieses Satzzeichens zu schätzen wissen. Dass Sätze endgültig abgeschlossen werden, mit einem Punkt. Oder dass sie unverbindlich durch ein Komma fortgeführt werden, solange manchmal, bis der Sinn des Satzes nahezu verloren gegangen ist. Eine Metapher für das Leben. Entweder endgültig gelebt, immer mit Blick oder der Angst vor der eigenen Endlichkeit, dem alles abschließenden Punkt. Oder und das weitaus öfter, so meine ich zu behaupten, so als ob das Leben immer und ewig weitergehen würde, unverbindlich, gedankenlos. Komma, Komma, Komma. Ich werde geboren, gehe in den Kindergarten, zur Schule, zur Uni, habe Beziehungen, trenne mich, habe DIE Beziehung, heirate, bekomme Kinder, oder auch nicht, lasse mich scheiden, oder auch nicht, werde gekündigt, oder kündige, suche mir einen neuen Job, gehe in Pension, werde alt, oder bleibe ewig jung, bis ich schlussendlich sterbe. Und dann: Punkt. Ein Leben, immer vage, verbunden durch ein Komma, viele Lebensabschnitte gedankenlos, atemlos aneinandergereiht, bis es mit einem Punkt endet. Endgültig. Selbstverständlich variieren Lebenssätze, sowohl inhaltlich als auch stilistisch. Aber nur wenige nehmen sich die kleinen Pausen, die ein Semikolon bietet; ein kurzes (oder auch ein bisschen längeres) Innehalten, ein Abwägen, wie unser Satz fortgeführt wird, werden könnte; kann; soll. Ein immer wieder neues Entscheiden, in welche Richtung unser Leben uns führen könnte; kann; soll. Ein kleines Experiment: Lies doch einmal die folgenden Sätze ohne Pausen, wenn sie durch ein Komma verbunden sind bzw. mit ganz bewussten Pausen, wenn sie durch ein Semikolon verbunden sind und spüre nach, ob und was sich verändert.

Ich stehe auf, ich putze die Zähne, ich dusche, ich ziehe mich an, ich trinke Kaffee, dann gehe ich zur Arbeit, ich komme nachhause, dann esse ich zu Abend, ich ziehe mich um, lege mich ins Bett, schließlich schlafe ich ein.

Ich stehe auf; ich putze die Zähne; ich dusche; ich ziehe mich an; ich trinke Kaffee; dann gehe ich zur Arbeit; ich komme nachhause; dann esse ich zu Abend; ich ziehe mich um; lege mich ins Bett; schließlich schlafe ich ein.

Ich werde nicht mutmaßen und bin trotzdem fest davon überzeugt, dass du diese gleichen Sätze mit einem vollkommen unterschiedlichen Gefühl abgeschlossen hast. Für mich endet der erste Satz atemlos, gestresst, erschöpft. Der zweite schließt entspannt, wohlig und ruhig ab.

Das Semikolon- ein Satzzeichen, das eigentlich nichts und doch alles ändert; der Inhalt bleibt gleich; doch das Gefühl, das am Ende übrigbleibt, ist- so denke ich- vollkommen anders. Und darum liebe ich dieses fast vergessene Satzzeichen. Es zeigt, dass ein kurzes, winziges Innehalten einen riesigen Unterschied machen kann.


© leilaellawhatever 2025-06-30

Genres
Romane & Erzählungen