von Ivonne Lubnau
Lange Zeit warst du mein ständiger Begleiter, mein Ego. Mein Schatten, mein Antreiber, mein größter Kritiker. Du hast mich verteidigt, wenn ich mich angegriffen fühlte, hast mich aufgerichtet, wenn ich am Boden lag, und hast mich gleichzeitig mit Erwartungen erschlagen, die mich kaum atmen ließen.
Ich erinnere mich noch gut an die Tage, an denen Wut mein Motor war. Ich war zornig – auf die Welt, auf andere Menschen, auf Situationen, die nicht nach meinem Willen liefen. Und wenn ich nicht wütend war, dann war ich eifersüchtig. Auf diejenigen, die es „besser“ hatten. Die leichter durch das Leben zu gleiten schienen. Ich war Richter und Henker in einer Welt, die meiner Meinung nach dringend meine Kontrolle brauchte. Ordnung, Perfektion, Anerkennung – das waren meine Regeln.
Und dann kamst du, kleines Wunder. Mein Kind.
Mit dir in meinen Armen wurde alles anders. Anfangs habe ich noch versucht, die Kontrolle zu behalten. Habe Windeln wie einen Perfektionisten gefaltet, die Wohnung blitzblank gehalten, als wäre sie ein Operationssaal. Doch du, mit deinen großen, neugierigen Augen und deiner bedingungslosen Liebe, hast mich entwaffnet.
Das erste Mal, als du die Wände mit deinen kleinen Händen bemalt hast, schrie alles in mir nach Disziplin. Aber da war auch etwas anderes: ein Lächeln. Dein Lächeln. Und meines.
Plötzlich sah ich die Welt anders. Ich begriff, dass nicht die anderen mich wütend machten – ich war wütend auf mich selbst. Ich begriff, dass meine Eifersucht nur ein Spiegel war – eine Reflexion meiner eigenen Unsicherheiten. Und ich begriff, dass meine Urteile über andere nur Mauern waren, die ich um mich herum gebaut hatte, um mich selbst nicht hinterfragen zu müssen.
Ich lernte, innezuhalten. Zu beobachten, bevor ich urteilte. Zu fühlen, bevor ich reagierte.
Mein Ego, das früher so laut geschrien hat, flüsterte nur noch. Und manchmal, in ruhigen Momenten, umarmte ich es sogar. Ich begann zu verstehen, dass es nie mein Feind war. Es war ein verwirrtes Kind, das Schutz suchte. Und je mehr ich es annahm, desto mehr verlor es seine zerstörerische Macht über mich.
Heute bin ich ein anderer Mensch. Ich muss nicht mehr jede Herausforderung annehmen, um meinen Wert zu beweisen. Ich muss nicht mehr alles kontrollieren, um mich sicher zu fühlen. Ich bin zufrieden. Ja glücklich. Und voller Liebe für diese Welt.
Und weißt du was, mein liebes Ego? Ich bin dir dankbar. Ohne dich hätte ich diese Reise nie angetreten.
Aber jetzt ist es Zeit, dass du dich ausruhst. Die Welt braucht keinen Richter. Sie braucht Liebe. Und ich bin endlich bereit, sie zu geben.
© Ivonne Lubnau 2025-02-23