von Viktoria Waba
Was würdet ihr stehlen, wenn ihr könntet? Geld? Autos? Fernseher? Das wären zumindest sicherlich aus finanzieller Sicht wertvolle Dinge, die man teuer weiterverkaufen könnte. Darum wird vielleicht manch einer Lachen, wenn ich euch nun von meiner Lieblingsdiebin erzähle, denn Liesel stiehlt keinen Schmuck oder Elektrogeräte, nein Liesl stiehlt Wörter, um noch genauer zu sein – sie stiehlt Bücher.
Vor einigen Jahren fiel mir das Buch “Die Bücherdiebin” von Markus Zusak, das ich für meine Deutschmatura lesen “musste”, in die Hände. Komischer Titel, dachte ich mir zuerst, hatte aber zu diesem Zeitpunkt noch keine Ahnung, wie dieses Buch mein Leben und mein Denken verändern würde.
Liesel lebt in einer tragischen Welt, in der ein kleiner böser Mann versucht mit der Macht der Worte die Weltherrschaft an sich zu reißen. Als ihr kleiner Bruder stirbt, begegnet sie dem Tod zum ersten Mal, der von da an beschließt, ihre Geschichte zu verfolgen und sie uns zu erzählen. Gemeinsam erleben sie in dieser Zeit Dinge, die selbst den Tod nicht kalt lassen. Jedoch am beeindruckensten war für mich ihr Umgang und ihre Liebe zu den Worten und den Büchern.
Durch Liesel habe ich zum ersten Mal über die Macht der Worte nachgedacht. Wir verwenden sie tagtäglich und dennoch sind wir uns oft nicht bewusst, welch mächtiges Werkzeug uns durch sie zur Verfügung steht.
Worte sind so mächtig, dass wir manchmal in Versuchung geraten, sie zu missbrauchen. Wie ein stumpfes Messer schleifen wir sie an einem rauen Stein, bereiten sie auf den Kampf vor oder wir schießen sie blitzschnell und wild nacheinander wie in einem donnernden Kugelhagel aus unseren Mündern.
Worte sind verletztend. Sie hinterlassen Narben. Narben, die lange brauchen, um zu verblassen. Sie dringen tief ein, treffen uns nicht im Arm, nicht im Bein, sie treffen uns im Herzen. Einmal getroffen versuchen wir uns zu währen, werfen sie zurück und fügen uns damit noch größere Narben hinzu.
Doch Liesel hat mir auch gezeigt, dass Worte heilen können. Sie sind wie Pflaster, die sich sanft über unsere Wunden legen und unsere Heilung ermöglichen. Worte verlangen aber auch immer ein bestimmtes Maß an Mut. Doch hat man sich erst überwunden, geben sie uns die Kraft zum Ausdruck zu bringen, wenn wir uns nicht wohlfühlen, wir uns Veränderung wünschen oder Trost spenden wollen. Worte geben uns ihr Vertrauen und dadurch ihre Macht zu entscheiden, wie wir sie verwenden wollen.
Ich muss gestehen, zurzeit denke ich sehr oft an dieses Buch. Ich denke an Liesel, wie sie verängstigen Menschen im Schutzbunker vorliest. Dieses kleine Mädchen, das versucht Fremde in einer ungewissen Zeit zu beruhigen und zu trösten. Ich denke an ihre Worte und ihre Liebe zu ihnen, aber ich denke auch an ihren Begleiter, den Tod, und ich frage mich, ob er sich gerade auch so sehr mit der Frage nach dem Wesen der Menschen beschäftigt wie ich.
© Viktoria Waba 2021-11-30