Lilja lässt die Zeit still stehen

Nadine Krause

von Nadine Krause

Story
Island

Ich unternahm eine kleine Tour um den Campingplatz herum und fühlte, wie gut mir das tat. Am nahegelegenen kleinen Wasserfall, den ich nach fünf Minuten erreichte, setzte ich mich hin und starrte einfach nur auf die herabfallenden Wassermassen und empfand das Tosen so angenehm, dass ich die Augen schloss und das erste Mal in diesem Urlaub wirklich herunterkam. Die Enge im Auto, Sarahs ständig gute Laune, die nicht echt sein konnte und das Regenwetter, hatte mir zugesetzt. Wenn ich schlecht gelaunt bin, werde ich still. Laute Menschen wie meine Schwester ertragen das nicht, also werden sie noch lauter. Ich hatte also sehr viel angestaute Aggressionen in mir, die aber zur Hälfte schon verflogen waren, allein weil das Wetter nun gut und ich an diesem traumhaften Ort war. Ich spürte wie allein der Klang der herunter stürzenden Wassermassen mich beruhigte, auch wenn dies kein großer Wasserfall war, hatte er eine enorme Wirkung. Das hatte Natur immer auf mich. Je ursprünglicher, desto besser. Deshalb war ich von Island so begeistert. Ich finde, es gibt kaum einen besseren Ort für mich. Ok, dass die Wikinger die ganzen Wälder zum Schiffe bauen gefällt haben und die Schafe jeden Keimling fraßen, ist es natürlich eine Unvollkommenheit in der Ursprünglichkeit der Insel, aber abgesehen davon hat diese Vulkaninsel etwas Magisches. Für mich machte die Waldlosigkeit erst die Anziehung aus. Genau wie die Menschen, die hier lebten. Ich wusste, dass Sarah ihr Bestes gab und dass ich manchmal zu mürrisch war, um ihr eine Chance zu geben. Ich war eben keine Frohnatur. Ich hielt mich oft für sensibler und tiefgründiger und war auch oft einsam, weil ich die meisten Menschen um mich herum als zu laut und gekünstelt empfand, die alle in einer Art Wettbewerb lebten. Ich wusste um meine komische Art, aber ich mochte meine Authentizität und wollte diese um jeden Preis leben. Wahrscheinlich war das auch der Grund, dass ich nur drei gute Freunde hatte. Mir persönlich war das genug. Wenn meine Schwester früher zu Hause eine Party schmiss, war das ganze Haus voll. Es wurde getrunken, getanzt, gegrölt und durchgefeiert bis zum nächsten Morgen. Meine Eltern und ich fuhren dann zu meiner Tante. Das ist zwar nur zweimal passiert, aber Sarah ist wie ein menschlicher Magnet, der andere Menschen anzieht. Ich bin das nicht. Wenn ich Menschen als angenehm finde, öffne ich mich nur den wirklich interessanten. Ich weiß aber auch, dass das ungewöhnlich und introvertiert wirkt. Meine Oma sagt immer, ich sei eine alte Seele. Ich weiß, dass sie das als Kompliment meint. Während ich mir vornahm, meiner Schwester gegenüber netter zu sein , sah ich Lilja auf mich zusteuern. Sie fragte: »Du sprichst doch Englisch?«. »Ja«, antworte ich sichtlich erleichtert, noch einigermaßen normal zu reagieren.


© Nadine Krause 2024-03-05

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Abenteuerlich, Herausfordernd, Emotional, Inspirierend