Lillians Augen

StewartMcCole

von StewartMcCole

Story

Die etwas verunsichert und fast schon verängstigt wirkende Dame mit den langen, leicht gelockten Haaren eilt durchs Bild, ihre großen Augen blicken nervös von einer Richtung zur anderen. Die große Lillian Gish in einem ihrer unzähligen Filme, von denen ich mir an diesem Abend einige ansehe. Dazu ein kühler Drink. Schon ein seltsames Gefühl, sich diese über hundert Jahre alten Aufnahmen ansehen zu können. Eine der guten Seiten des Internets.

Miss Gish, damals neben der unerreichbar großen Mary Pickford der wohl größte Star der Welt. Eine der ersten Hollywood-Ikonen. In jedem Film erschien sie so sanft, so zerbrechlich. Wie eine Porzellanpuppe, der man mit den traurigen Augen und dem Hundeblick nie böse sein konnte. In Komödien tollpatschig süß und in Dramen so herzzerreißend weinend, dass man sie in jeder Szene in den Arm nehmen wollte. Am stärksten wird dieses Gefühl in einem Drama namens „Broken Blossoms“. Lillian spielte dort die Tochter eines Trinkers, die sich um alles im Haushalt kümmert, aber dennoch von ihm geschlagen wird und weinend in die Kamera blickt, als sie von ihrem Vater aufgefordert wird, doch gefälligst ein Lächeln aufzusetzen. Und als Antwort mit ihren Fingern ihre Mundwinkel nach oben zieht, während sie den Mann vor sich voller Angst anblickt. Eine bizarre und so simple, aber dennoch wirkungsvolle Szene. Lillian Gish konnte keine Worte für ihre Emotionen verwenden, im Stummfilm waren die einzigen Möglichkeiten ihre Mimik und ihre Augen. Während andere Darstellerinnen der Zeit meist nur ein einziges Puppengesicht für alle Rollen auf Lager hatten, hauchte Lillian all ihren Figuren eine Seele ein. Und das nur mit ihrem Gesichtsausdruck.

Miss Gish, ein Stück Filmgeschichte. Und fast schon so was wie ein Wesen aus einer fremden Welt. Sie heiratete nie, behielt ihre Liebschaften für sich. Sie betrauerte den Stummfilm ein Leben lang, trat aber dennoch bis zuletzt in Filmen auf. 75 Jahre nach ihrem Debüt. Sie war Pazifistin und Kriegsgegnerin, was ihr teilweise sogar einen Eintrag auf einer „Schwarzen Liste“ Hollywoods bescherte. Und sie überlebte 1918 eine Erkrankung an der spanischen Grippe, die vielen anderen jungen Stars Hollywoods das Leben kostete. Zusammen mit ihrer jüngeren Schwester Dorothy, die leider mehr als 20 Jahre vor ihr starb, gründete Lillian gar ein Heim für junge Schauspielerinnen in Beverly Hills, die mit großen Hoffnungen nach Hollywood strömten und auf der Suche nach Glück eine sichere Bleibe brauchten. Bis zu ihrem Tod mit 99 Jahren war Lillian Gish präsent, kommentierte das ihrer Meinung nach fragwürdige moderne Hollywood und hielt Vorträge über die Filmgeschichte, die sie von Anfang an mitgeprägt hatte.

Geblieben sind dutzende von Miss Gishs Filmen. Und die fast schon magisch-mystische Ausstrahlung ihrer Augen. Ich sehe auf die Uhr, nicht zu spät. Zeit für noch einen kleinen Film. Ich gieße mir einen weiteren Drink ein, lächle und erhebe mein Glas.

„Auf dich, Lillian!“

© StewartMcCole 2022-08-08

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