von Sonja M. Winkler
Meine beiden Großmütter konnten unterschiedlicher nicht sein. Das Einzige, das sie gemeinsam hatten, war ihr Geburtsjahr. Beide waren sie Einser-Jahrgänge.
Die Linzer-Oma war die Mutter meines Vaters. Sie verkörperte einen gänzlich anderen Frauentyp als die Ufer-Oma. Aufgewachsen in einer angesehenen Bauernfamilie aus St. Georgen a. d. Gusen, war sie städtisch orientiert. Als ich erwachsen war, zeigte sie mir voller Stolz ihr Abschlusszeugnis. Sie war in eine 3-jährige Hauswirtschaftsschule gegangen und hatte in allen Gegenständen gute Noten. Das Zitherspiel habe man ihr als Mädchen verwehrt, sagte sie einmal. Sie hätte gern ein Instrument gelernt. Ihre Brüder spielten Ziehharmonika.
Die Linzer-Oma war eine begnadete Märchenerzählerin. Ich sehe mich als knapp 4-Jährige in der Bauernstube sitzen. „Es war einmal ein armer Holzhacker, der hatte zwei Kinder, aber nichts zu beißen.“ Ich hing an ihren Lippen. „Hänsel und Gretel“ war mein erklärtes Lieblingsmärchen. Jeden Abend bettelte ich darum. In meiner Erinnerung hab‘ ich es nur ein einziges Mal zu Ende gehört, denn als der Hänsel im Käfig gemästet wurde, war ich bereits aufgelöst vor lauter Mitgefühl und heulte so herzzerreißend, dass meine Mutter die Stiege herunterkam, um mich abzuholen und ins Bett zu stecken.
Ihr Vater, erzählte mir die Linzer-Oma einmal, sei Bürgermeister in der Marktgemeinde Luftenberg gewesen. Ihr Mädchenname war Wöckinger, und tatsächlich stieß ich jetzt bei der Internet-Recherche auf einen gewissen Johann Wöckinger, der in den Jahren nach 1910 in Pürach Bürgermeister gewesen ist.
Die Linzer-Oma hielt viel auf ihr Aussehen. Sie färbte sich zeitlebens die Haare und malte sich die Lippen an, wenn sie außer Haus ging. Von meiner Mutter, die mit einem traditionellen Männerbild großgeworden war, hörte ich oft, dass die Oma die Hosen anhat und sich der Opa unterordnen muss. In meinen Augen war der Opa aber kein Simandl, sondern seiner Zeit voraus. Immerhin funktionierte das eheliche Arrangement der beiden fast 60 Jahre.
Bis zum Tod von Vati im Dezember 1959 wohnten wir in dieser Reihenhaussiedlung am Stadtrand von Linz. Viel Platz hatten wir da nicht in der ausgebauten Mansarde unterm Dach. Die Großeltern wohnten im Erdgeschoß. Das Klo teilten wir uns. Die Waschküche war in einem Anbau.
Das Rasenstück war schmal und zog sich bis zur Straße hin. Es gab einen Steingarten mit Gartenzwergen und eine schattige Weinlaube. Die süßen Trauben wuchsen uns buchstäblich in den Mund. Der Weg zum Gartentor war mit Rosensträuchern gesäumt, die Omas ganzer Stolz waren. Wenn sie die Rosen schnitt, zog sie Gartenhandschuhe an, und ich trug den Kübel, in den sie die Triebe fallen ließ.
Doch meine eigentliche Hauptbeschäftigung bestand darin, meine Nase in die Blütenköpfe zu stecken und ihren Duft einzusaugen. Das nahm mich völlig in Anspruch.
Manchmal wünsch‘ ich sie mir zurück, diese Zeit, als ich noch nicht wusste, dass Rosen auch Dornen haben.
© Sonja M. Winkler 2021-05-16