von Evelyn Weyhe
Ich weiß nicht, wann es anfing, eine Art Besessenheit zu werden, eine Sucht, eine Manie. Jedenfalls erinnere ich mich, dass ich schon als Kind eine tiefe Bewunderung für geschminkte Lippen hegte. Ich tapezierte mein Zimmer mit Fotos schöner Frauen aus der „Bravo“ und wartete sehnsüchtig darauf, dass meine Eltern mir eines Tages erlauben würden, Lippenstift zu benutzen.
Dann war es so weit. Es war Fasching, ich war zu einer Jugendparty eingeladen und verkleidete mich als Ballerina. Heute durfte ich offiziell zugreifen! Die Wahl fiel schwer, meine Mutter hatte so viele Lippenstifte in den schönsten Farben. Meine Hand fuhr ehrfürchtig über die gold- oder silberfarbenen Hüllen. Alle wurden geöffnet und auf einem Blatt Papier getestet. Zu rot, zu rosa, zu matt, zu glänzend, zu dunkel, zu hell. Enttäuscht wollte ich die Schachtel zuklappen. Nur noch einer lag darin.
Der war es dann. Eine wunderschöne Mischung aller Rottöne, zart wie eine Rosenknospe, weich und samtig fühlte er sich an, als ich ihn probeweise auf meinen Lippen verteilte. Ich fühlte mich wunderschön, es war wie eine Metamorphose . Als Schmetterling flatterte ich überglücklich zum Fenster hinaus und kehrte niemals mehr in ein lippenstiftloses Leben zurück.
Ich lese nach, dass der älteste Fund, der auf das Färben von Lippen hindeutet, aus dem Jahr 3500 vor Christus stammt. Was die Frauen sich im Laufe der Jahrhunderte alles einfallen lassen mussten, um ihre Lippen zu färben, bis Anfang des 20. Jahrhundert dann endlich der Lippenstift in der Metallhülse auf den Markt kam!
Zu meiner Teenagerzeit war es modern, die Lippen weiß zu schminken. Ich unterwarf mich mit einer kleinen Veränderung dem Trend: ich mischte Rosa bei. Gott sei Dank hielt sich diese Mode nicht lange, und ich konnte wieder in die Farbpalette greifen.
Nie darf bei mir der Lippenstift fehlen, immer griffbereit in allen Lebenslagen. Ob im Krankenhaus, auf Safari, am Strand – morgens der erste Griff, die Augen noch halb geschlossen, kann ich mir ohne Spiegel die Lippen nachziehen. Eisiger Schrecken durchfährt mich, wenn das gute Stück dann doch einmal vergessen wird. Hektisch durchsuche ich alle Taschen, tatsächlich: nicht da! Wo ist die nächste Drogerie? Inzwischen besitze ich eine ähnliche Sammlung wie damals meine Mutter. Farben für alle Gelegenheiten. Morgens entscheide ich, wie farbig ich den Tag angehen möchte, und stecke mir das kostbare Utensil in die Hosentasche. Nicht für andere mache ich das. Ich mache es für mich. Mein Spiegelbild erzählt mir, dass ich ohne geschminkte Lippen wie ein farbloser Gecko aussehe.
Selbst als wir 1997 brutal in der Masai Mara überfallen werden und uns in eine entfernte Lodge retten können, nehme ich aus meinem Auto lediglich den Lippenstift mit.
Ich werde erst damit aufhören, wenn die Farbe beginnt mir in die senkrechten, von uns Frauen verhassten Lippenfalten läuft. Oder ich lasse mir die Falten wegmachen. Mal sehen.
© Evelyn Weyhe 2022-02-07