Lippenstift und ähnliches Schlampige

rebella-maria-biebel

von rebella-maria-biebel

Story

Also zum Beispiel die Maier Christl aus dem ersten Stock. Wann immer Mama sie erwähnte, rümpfte sie die Nase, nannte sie “eine Schlampe” oder einfach “so eine”. Ich, damals beginnender Teenager, hatte zwar keine klare Vorstellung davon, aber ich ahnte sehr wohl, was sie damit meinte: die Christl war eine verwerfliche Person. Vielleicht hat das allein gereicht, dass sie mich faszinierte. Oder dass sie die jungen Männer umschwärmten, die Schlurfs mit den Röhrlhosen und den schrecklich spitzigen Schuhen. Christl mit ihren wilden, wasserstoffblonden Haaren, den geschminkten Augen und dem grellrosa Lippenstift. Ich kam mir dagegen schrecklich unscheinbar vor mit meinen langen Zöpfen und ohne irgendwas Verschönendes. Es kam meine Labisanzeit, eine Salbe gegen Fieberblasen, rosafarben, die ich statt Lippenstift auftrug, wenigstens das.

“Natürlichkeit ist die grösste Zierde der Frau”, wurde mir gepredigt. Wie langweilig. Ich legte mir ein paar Schminksachen zu und war glücklich, wenn ich mich bemalen konnte. Vorm Heimkommen ging ich zu meiner Komplizin, unserer Hausbesorgerin. Dort tilgte ich alle Schminkspuren und hinterlegte mein kleines Schönheitstascherl in ihrem Postkasten, nachdem Papa das “Teufelszeug” gefunden hatte. War natürlich sofort konfisziert. Ich in Tränen aufgelöst, aber meine Internatsfreundinnen sammelten jedesmal für mich, eine Grundausstattung bekam ich immer zusammen. Als ich dann volljährig war, forderte ich Papa auf, mir meine Schätze herauszugeben. Das war eine grosse Schachtel voll Schminkzeug…. und jede Menge Zigaretten. Teufelszeug halt.

Nach meinem Auszug aus der elterlichen Wohnung mauserte ich mich zum Vamp mit fast zentimeterdickem Lidstrich und Make-up. Lippenstift war allerdings nicht wirklich meines, das Abfärben fand ich lästig, und auch ohne roten Kussmund hatte ich eine verwerfliche Ausstrahlung, wie die Maier Christl. Fand ich wirklich gut.

Im Lauf der Jahre, Ehefrau und Mutter, hatten meine Eltern ihre Freude an meiner Natürlichkeit. Meine Aufmüpfigkeit lebte ich in Kleidung und Haartrachten aus und fühlte mich wohl dabei, all die Jahrzehnte. Unlängst sah ich das Foto einer älteren Frau mit knallroten Lippen, das hat mich irgendwie elektrisiert, hatte etwas Wildes, Freches. Ich kramte in meinem Schminktäschchen und wurde fündig. Knallrot! Mein Lieb war etwas entsetzt, aber ich wollte mal probieren, wie ich mich damit fühlte. Dann kam meine Tochter zu Besuch und machte grosse Augen. In ihren 44 Jahren hatte sie ihre Mama noch nie mit Lippenstift gesehen.

“Bissi zu grell, zu knallig zu deinen hennaroten Haaren, aber ansonsten find ichs wirklich hübsch”, meinte sie, und damit hatte sie sicherlich Recht. Ich hatte ja nur diesen einen Lippenstift daheim. Gestern besorgte ich mir einen dezenteren Stift, u nd damit fühl ich mich absolut wohl. Irgendwie wie meine Mama, die mit 99 erstmals rote Fingernägel trug.

Auch mit 74 ½ kann das Leben noch bunt werden…!

© rebella-maria-biebel 2021-11-04

Hashtags