Loslassen

Sarah Koschinski

von Sarah Koschinski

Story

Es fühlt sich an wie ein innerer Faden, an dem ich hänge. Ich kann mich in einem gewissen Radius bewegen, aber sobald ich einen Schritt zu weit gehe, entsteht Spannung und ich hab das Gefühl, ich bleibe stehen. Komma nicht weiter. Dieser Faden ist ein Hindernis. In jeglicher Hinsicht. Manchmal schaffe ich es, ihn zu vergessen und oft habe ich das Gefühl, der Radius, in dem ich agieren kann, wird teilweise größer. Doch dann komme ich unweigerlich immer an den Punkt, an dem ich stehen bleiben muss. Weil es nicht weitergeht. Und ich habe gemerkt, dass es an der Zeit ist, loszulassen.

Ich weiß, es klingt total befreiend. Loslassen. Ich glaube, das ist es auch. Doch für mich war es noch nie etwas, das mir leichtgefallen ist. Denn ich tendiere dazu, festzuhalten. Sei es an Menschen, Erinnerungen oder Gefühlen. Irgendwas in mir lässt nie so wirklich los, sondern lässt sich immer eine kleine Hintertür offen. Nur für den Fall. Aus Erfahrung weiß ich inzwischen, dass ich diese Tür nie wieder gebraucht habe. Trotzdem ist es wahnsinnig beruhigend zu wissen, dass es sie gibt. Dass sie eventuell sogar nur angelehnt ist. Es hilft mir, wenn ich merke, dass alles um mich herum zerbricht. Zu wissen, dass es noch nicht ganz verloren ist. Deshalb halte ich fest und merke gar nicht, dass loslassen so viel besser wäre.

Ich bin Gefangene meiner selbst. Ich sitze in meinem goldenen Käfig und warte auf Befreiung. Von wem, weiß ich auch nicht so genau. Direkt neben mir liegt der Schlüssel, der mich aus ihm befreit. Auf ihm steht geschrieben „Lass los.“ Doch ich ergreife ihn nicht, sondern warte viel mehr darauf, dass jemand kommt und für mich aufschließt. Also warte und warte und warte ich. Dieses Szenario erinnert mich an eine Szene in „Eat Pray Love“, in der Julia Roberts erzählt, dass ein Mann Gott anfleht, er möge doch endlich im Lotto gewinnen. „Bitte, bitte, bitte, lass mich im Lotto gewinnen“, sagt der Mann und Gott sagt „Bitte, bitte, bitte, kauf dir endlich ein Los.“ Kein Los, kein Lottogewinn. Kein Loslassen, keine Freiheit.

Deshalb übe ich jetzt, wie man loslässt. Was erstaunlich anstrengend ist, wenn man sein ganzes Leben lang im Team festhalten war. Aber ich hab mich viel zu oft in Situationen wiedergefunden, in denen ich gemerkt habe, dass die andere Person schon längst nicht mehr festhält, sondern nur ich es bin, die immer weiter hofft und sich an etwas klammert, was nicht da ist. Ich stelle mir vor, dass ich dieses unsichtbare Band, das mich innerlich festhält, durchschneide. Und wie es sich anfühlt, wenn ich den Radius, den ich mir selbst vorgegeben habe, verlasse. Es fühlt sich befreiend an. So, als würde eine Last von mir fallen, die ich über lange Strecken getragen und die mich viel Energie gekostet hat.

Nichtsdestotrotz werde ich wohl immer eine Person sein, die länger an etwas festhält, als es loszulassen. Weil manchmal finde ich festhalten auch ganz schön. Aber ich muss auch lernen, dass es Menschen und Gefühle gibt, an denen ich festhalten kann, sie aber trotzdem irgendwann loslassen muss. Und diese neu gewonnene Energie gibt mir die Kraft, mich auf mich selbst zu konzentrieren und zu lernen, dass ich niemand anderen brauche, um genug zu sein. Dass ich für mich alleine stehen kann.

© Sarah Koschinski 2023-08-31

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Herausfordernd, Emotional, Inspirierend