Loslassen nach 15 Jahren

Brigitte Böck

von Brigitte Böck

Story

Mutter starb 1972 mit 55 Jahren. Ich habe sie gepflegt und war bei ihrem Tod bei ihr. Oft saß ich stundenlang an ihrem Bett, es ging ihr so elend, dass kein Raum war, noch alte Dinge zu besprechen oder aufzuarbeiten. Nach ihrem Tod war ich in tiefer Trauer, es war so viel ungesagt geblieben. Der Alltag kostete meine Kraft und ich vergaß wieder einmal mich selbst. Die positive Entwicklung meiner Mädchen führten zur Verdrängung alter schmerzhafter Gefühle.

Als die Kinder ausgezogen waren, holte mich meine Kindheit und viele alte Gefühle ein, sie überschwemmtem mich fast. So begab ich mich 1987 in eineTherapie, um Ordnung in mein verwirrtes Gefühlsleben zu bringen. Sehr bald merkte ich, wieviel Groll ich noch immer auf meine Mutter hatte, wie verletzt ich noch war, obwohl sie schon 15 Jahre nicht mehr lebte. Sie war immer krank, hatte mich nie beschützt, war nicht fähig , Körperkontakt zu geben, und doch liebte ich sie so sehr. Ich fühlte, ich muss sie loslassen, damit dieser seelische Hunger endlich aufhörte.

So schrieb ich ihr in einer schmerzvollen Nacht unter vielen Tränen einen Brief, in dem ich ihr all das mitteilte, was ich nie zu sagen gewagt habe. Es war eine einsame Nacht, randvoll mit alten Erinnerungen, Vorwürfen und dem Wunsch, endlich freizuwerden von den Altlasten, die meine Energien fraßen. Am nächsten Tag las ich den Brief noch einmal durch und fuhr mit Herzklopfen zum Friedhof, auf dem ich 15 Jahre nicht war. Ich schaute mich um, kein Mensch war zu sehen. Ich riss den Brief in viele kleine Stücke. Dann machte ich ein Loch in die Erde und vergrub die kleinen Schnipsel. Einen Moment blieb ich noch stehen, verabschiedete mich und wollte gehen.

Ich kam nur etwa fünf Schritte weit, dann hatte ich das Gefühl, ein Haken sitzt in meinem Rücken und ich kam nicht mehr vorwärts. Etwas hielt mich fest. Sie hatte noch immer Macht über mich. Ich ging zurück, stand an ihrem Grab und sprach laut: „Mama, du bist tot und ich bin lebendig, du bleibst jetzt hier und ich gehe ins Leben. Du wirst keine Macht mehr über mich haben.“ Ich wünschte ihr Frieden und ging los, mit leichtem Schritt und mit tiefer Freude und dem Gefühl, endlich frei zu sein.

Gegenüber auf der anderen Straßenseite war eine Eckkneipe, ich ging hinein, setzte mich an einen Tisch, niemand außer dem Wirt war dort. Ich bestellte einen Kaffee und fühlte mich mit meinen 44 Jahren ganz jung. Der Wirt beobachtete mich eine Weile, dann ging er zur Musikbox, warf ein Geldstück hinein, er sah mich kurz an und dann spielte das Lied: “Mit 17 hat man noch Träume!“ Das entsprach genau meinem Lebensgefühl in diesem Moment, ich musste lächeln. Etwas verwirrt, aber leicht und froh, fuhr ich nach Hause.

Lange Zeit später hatte ich einen Traum, meine Mutter stand an einer Zinkwanne, wusch mit verschwitztem Haar die Wäsche von uns allen, sie sah abgrundtief erschöpft aus. Ich erwachte und war in Tränen aufgelöst, sie hatte ja nicht einmal genug Kraft für sich selbst. Und endlich konnte ich ihr von Herzen vergeben.

© Brigitte Böck 2021-02-27