von Emma Breuninger
Wie jedes Jahr haben wir Heilig Abend zu dritt verbracht, mein Vater, mein Sohn und ich. Am ersten Weihnachtstag fahren wir mit dem Zug nach München zu meinem Bruder, wo wir dann alle gemeinsam noch einmal feiern. Wir bleiben über Nacht und am zweiten Weihnachtstag geht es mit dem Zug wieder zurück nach Hause. Draußen scheint die Sonne, es weht ein starker Wind. Im Radio hören wir Nachrichten und die Warnung vor einem Sturm, den man “Lothar” getauft hat.
Wir stehen am Bahnhof München-Pasing auf dem Bahnsteig, es ist windig und unangenehm. Gut, dass unser Zug, der Intercity von Klagenfuhrt nach Dortmund, pünktlich kommt und wir uns ins warme Abteil setzen können. Der Zug kann nicht abfahren, es gibt Probleme mit der Lok. Eine Durchsage vom Lokführer: “Zugpersonal, seid Ihr bereit? Ich versuche es jetzt noch einmal“. Wir fahren ab. Wenige Minuten später die Durchsage: “Meine Damen und Herren, aufgrund starken Gegenwindes können wir unsere Reisegeschwindigkeit nicht einhalten. Wir bitten um Ihr Verständnis.”
Ist das ein Scherz? Kann es sein, dass dieser Sturm so stark ist, dass selbst ein Zug nicht richtig vorankommen kann? Immerhin, wir fahren, nicht das volle Tempo, aber wir fahren. Kurz vor dem Bahnhof Augsburg hält der Zug an. Bäume und Sträucher biegen sich gewaltig. Laternen wackeln unglaublich stark. Es beginnt Angst zu machen. Langsam fahren wir in den Bahnhof ein, 13.30 Uhr.
„Verehrte Fahrgäste. Aufgrund von Sturmschäden auf der Strecke Augsburg – Ulm verzögert sich die Abfahrt auf unbestimmte Zeit”. Jetzt wird es ernst. Der Gegenzug fährt los, kollidiert wenige Meter weiter mit einem Baum, der auf die Gleise gestürzt ist. Nichts geht mehr. Das Dach einer Rangierlok blockiert unser Gleis.
Mein Vater geht essen und kommt mit der Meldung zurück: Es gibt nur noch kalte Speisen, denn es gibt keinen Strom mehr. Das Personal organisiert eine Diesel-Lok, die uns Strom gibt, damit die Toiletten wieder funktionieren und die Türen zwischen den Waggons leichter zu öffnen sind. Doch der Strom fällt immer wieder aus.
Ich renne durch die überfüllte Bahnhofshalle nach draußen. Nur ein Taxi steht dort. Der Fahrer weiß nicht, ob die Autobahn bis Ulm inzwischen wieder frei ist.
Gegen 18.00 Uhr die Durchsage: Auf dem Bahnhofvorplatz wird ein Bus nach Ulm bereitgestellt, aber nur für Fahrgäste bis Ulm. Mein Sohn und ich sausen los, mein Vater, schlecht zu Fuß, kommt hinterher. Wir ergattern noch einen Sitzplatz im Bus. Wenigstens kann Vater sitzen.
Gegen 19.45 Uhr kommen wir in Ulm an. Dort warten Menschenmassen auf den Bus, der sie nach Augsburg bringen soll. Sie drängen in den Bus, obwohl wir noch nicht draußen sind. Ich schreie laut: „Wenn Ihr uns nicht rauslässt, dann kommt Ihr nicht rein.“ Einen kurzen Moment benehmen sie sich besser. Es reicht, um aussteigen zu können. Der Spuk ist vorbei.
© Emma Breuninger 2020-12-31