von Enna Poel
Mein Handy klingelt. Es ist schon spät am Abend. Ich stehe vorm Badezimmerspiegel und wundere mich. Noch mehr wundere ich mich, als ich auf dem Display sehe, dass meine Tante mich anruft. Verdammt, denke ich, jetzt ist bestimmt etwas mit meiner Mutter passiert.
Mit einem Stein im Magen drücke ich auf Annahme. Ich höre gar nicht genau, wie sie beginnt, ich male mir schon die wildesten Dinge aus. Dann sagt sie: „Das wird dich jetzt sicher sehr treffen, vielleicht setzt du dich. Onkel Lothar ist tot.“ Stille. Sie wartet auf meine Reaktion und es dauert auch tatsächlich eine Weile, bis die Bedeutung ihrer Worte zu mir durchdringt. Lothar ist tot. Lothar ist tot?
„Annika, hörst du mich? Ich sagte, Onkel Lothar ist tot.“
Ich denke nur: Wow. Er ist wirklich tot! Um Fassung bemüht, sage ich mit wackeliger Stimme „Ja. Ja, Tante Iris, ich habe es gehört. Ich kann es kaum glauben.“
„Ich weiß,“ schnieft nun meine Tante ins Telefon. Wie in Trance nehme ich ihre von Trauer verzerrten Worte wahr. „Mein geliebter Lothar … Es war ein Herzinfarkt … Ging alles ganz schnell …“
Zum Glück sieht Tante Iris nicht, was ich im Spiegel sehe. Meine Mundwinkel haben sich unwillkürlich gehoben, mein ganzes Gesicht strahlt eine nie zuvor gekannte Erleichterung aus. Mein Gott, er ist tot, er ist einfach tot! Es ist die schönste Nachricht, die ich seit Jahren erhalten habe! Aber natürlich sage ich das nicht.
„Es tut mir so leid, vor allem für euch Kinder, er hat euch ja alle so geliebt …“, stottert Tante Iris weiter.
Ja, genau, denke ich, geliebt. Wenn du nur wüsstest, wie er uns geliebt hat. Wie ekelhaft das war, wenn er uns Mädchen wieder küssen und an sich drücken wollte. Wenn wir nichts ahnend mit ihm spielten und froh waren, dass sich wenigstens einer der Erwachsenen für uns interessiert hat. Und wenn er uns dann mit der Hand in die Unterhosen gefahren ist und uns begrapscht hat und uns dabei so verliebt angesehen hat. Geliebt, denke ich bitter. Doch dann fällt mir wieder ein, dass er tot ist.
„Ach Kind, du sagst ja gar nichts,“ stellt meine Tante nun fest. „Das muss wirklich schrecklich für dich sein … Wir wollten uns ja auch bald alle bei Omas Siebziger treffen …“
Nein, wollten wir nicht, denke ich. Meine Schwester und ich und die Töchter deines Bruders wollten nie zu irgendwelchen Familientreffen kommen, denn wir haben sie gehasst, auch jetzt noch. Immer wieder haben wir uns gefragt, wie wir mit dem, was Lothar getan hat, umgehen sollen und ob wir später als Erwachsene etwas hätten sagen sollen, ob wir andere hätten schützen können. Keine von uns hat normale Beziehungen führen können, keine von uns hat vertrauen können, keine von uns hat vergessen können.
Schrecklich, überlege ich, schrecklich war es vor allem vor seinem Tod.
„Ich weiß, dass es schwer sein wird“, höre ich Tante Iris wieder, „aber wir müssen jetzt einfach versuchen, das Beste daraus zu machen.“
„Ja,“ antworte ich, „das werden wir versuchen.“ Und ich hoffe, dass es uns jetzt etwas leichter fallen wird.
© Enna Poel 2021-04-25