von Jasmin Hielscher
Manfred fiel das Laufen schwer. Denn seine Beine waren besonders kurz geraten. Im Verhältnis zu seinem Oberkörper wirkten sie beinahe komisch kurz. Oder aber sein Oberkörper war einfach viel zu lang. Welche Kombination auch die richtige war, an dem Bild änderte es nichts.
Es änderte nichts daran, dass es, sobald er lief, aussah, als ob er gleich nach vorne oder nach hinten fallen müsste. Denn natürlich überwog das Gewicht seines Oberkörpers das seiner Beine ausschlaggebend. Bewegte er sich im öffentlichen Raum fort, war es unmöglich, ihn zu übersehen. Denn Manfred lief wie ein Unfall, bei dem man nicht hinschauen möchte, es aber letztendlich trotzdem tut. Aus Neugier. Aus Interesse. An dem Schicksal der Anderen.
Manfred bot seinen Zuschauern drei verschiedene Gänge: Es gab den langsamen, demotivierten Manfred. Träge und ohne jegliche Lust am Leben schleppte er seinen komischen Körper durch die Straßen und Gassen des kleinen Dorfes, in dem er wohnte. Der zweite Gang beinhaltete ein durchschnittliches Schritttempo, nicht zu schnell und nicht zu langsam, gerade so, dass man gut mitkommen konnte, würde man ihn zu Fuß begleiten. Das war der unspektakulärste Gang. Der dritte Gang dagegen war auffällig besorgniserregend. Er zeigte einen gehetzten Manfred und weil es ihm ja unmöglich war sich mit seiner Statur anständig zu hetzen, kam er einer Schildkröte sehr nahe, die aufgenommen und in Zeitraffer abgespielt wurde. Es wirkte abschreckend und so kam Manfred niemand gerne entgegen.
Mit dieser Ausgangslage jedenfalls war der arme Manfred nicht besonders glücklich. Deshalb, und weil ihn so viele Menschen auf seine kurzen Beine ansprachen, beschloss er einfach zu behaupten, seine Beine wären gar nicht kurz. Im Gegenteil, sie wären sogar ausgesprochen lang. Natürlich war diese Aussage auf den ersten Blick völliger Humbug. Natürlich glaubte niemand Manfred. Denn alle konnten ja schließlich mit ihren eigenen Augen sehen, wie Manfreds Beine tatsächlich aussahen. Und dass sie eben äußerst kurz geraten waren, lag nicht nur im Auge des Betrachters. Es war eine reine und eine wahre Tatsache. Aber Manfred beharrte auf seiner Behauptung. Standfest vertrat er diese, egal wie viele ihm widersprachen. Jeden Abend, wenn sich der Tag dem Ende und die Sonne dem Untergang neigte, stellte er sich auf den großen Marktplatz des Dorfes, um die Bewohner darüber zu informieren, wie außergewöhnlich lang seine Beine doch waren. Als Beweis zeigte er auf die große, steinerne Fläche, die der Boden des Stadtzentrums war. Und siehe da – man wollte seinen Augen gar nicht mehr trauen. Auf dem Boden zeichnete sich Manfreds Statur ab. Schwarz und schemenhaft. Mit den längsten Beinen, die das Dorf je gesehen hatte.Und plötzlich glaubten ihm die Leute, weil er so überzeugend war. In ihren Augen hatte er schon bald die längsten Beine der Welt.
© Jasmin Hielscher 2022-05-14