Der Heiland – von Hermann Hesse
Immer wieder wird er Mensch geboren,spricht zu frommen, spricht zu tauben Ohren,kommt uns nah und geht uns neu verloren.Immer wieder muss er einsam ragen,aller Brüder Not und Sehnsucht tragen,immer wird er neu ans Kreuz geschlagen.Immer wieder will sich Gott verkünden,will das Himmlische ins Tal der Sünden,will ins Fleisch der Geist, der ewige, münden.Immer wieder, auch in diesen Tagen,ist der Heiland unterwegs zu segnen,unseren Ängsten, Tränen, Fragen, Klagenmit dem stillen Blicke zu begegnen,den wir doch nicht zu erwidern wagen,weil nur Kinderaugen ihn ertragen.
Der Dezember
Das Jahr ward alt. Hat dünnes Haar.Ist gar nicht sehr gesund.Kennt seinen letzten Tag, das Jahr.Kennt gar die letzte Stund.
Ist viel geschehn. Ward viel versäumt.Ruht beides unterm Schnee.Weiß liegt die Welt, wie hingeträumt.Und Wehmut tut halt weh.
Noch wächst der Mond. Noch schmilzt er hin.Nichts bleibt. Und nichts vergeht.Ist alles Wahn. Hat alles Sinn.Nützt nichts, dass man’s versteht.
Und wieder stapft der Nikolausdurch jeden Kindertraum.Und wieder blüht in jedem Hausder goldengrüne Baum.
Warst auch ein Kind. Hast selbst gefühlt,wie hold Christbäume blühn.Hast nun den Weihnachtsmann gespieltund glaubst nicht mehr an ihn.
Bald trifft das Jahr der zwölfte Schlag.Dann dröhnt das Erz und spricht:“Das Jahr kennt seinen letzten Tag,und du kennst deinen nicht.”
© Sonja Runtsch-Dworzak 2023-11-22