von Irene Hülsermann
Wo lernte man 1980 einen Italiener kennen – richtig – in einer italienischen Eisdiele! Marco kam aus Apulien und war gerade einmal 19 Jahre alt. Seit einem Jahr lebte er in Starnberg. Durch ihn kam ich das erste Mal in meinem Leben nach Rom und nach Süditalien. Schon von den Reisen an den Gardasee war ich total begeistert von Italien. Diese neue Welt in Apulien tat ihr Übriges. Ich aß das erste Mal in meinem Leben Garnelen und Muscheln, unbekanntes Gemüse. Sah zu wie man Maccheroni mithilfe von Eisenstangen selber zubereitet. Half bei der Tabakernte mit. Und ich liebte das Meer! Mit dem Ape fuhren wir die dreißig Kilometer an die schönsten Strände am südlichsten Punkt des Stiefelabsatzes.
Eine Bar zu betreten war nur mit männlicher Begleitung gestattet, auch das war neu für mich. Aufgewachsen in Starnberg, dem „Vorort“ von München, gesegnet mit überaus modernen und toleranten Eltern, war ich schon damals unabhängig und frei. Ich hatte Glück, das Marcos Familie für Süditaliener ebenfalls ungewöhnlich offen war und so durfte ich mit ihm in einem Zimmer schlafen. In der Kirche saßen Männer und Frauen rechts und links getrennt. Meine „Schwiegermutter“ und ich setzten uns in die letzte Reihe. Zufällig drehte sich ein Mädchen um, tuschelte mit der Banknachbarin und schon wendeten sich immer mehr nach mir um. Kein Wunder mit den langen blonden Haaren war ich zu der damaligen Zeit ein „Alien“.
Ich trennte mich nach fünf Jahren von Marco, weil er extrem eifersüchtig war und zeitgleich ständig andere Beziehungen nebenbei hatte. Eine Zeitlang schrieb er mir Briefe und so nahm ich an seinem Leben teil. Ich erfuhr, dass er drogensüchtig geworden war und sich für eine Entziehungskur in Portugal aufhielt. Jahre später erhielt ich Post von seiner 17-jährigen Nichte. Diese hatte ich das letzte Mal als Baby im Arm gehalten. Selbst wenn ich sie nie wieder gesehen hatte, habe ich bis heute Kontakt zu ihr. Mit WhatsApp darf ich mittlerweile an ihrem Familienleben teilhaben. Kaum zu glauben, dieses Baby ist zwischenzeitlich schon vierzig Jahre alt!
2014 nahm ich mein Buch „Reise ihres Lebens“, das in Italien spielt, in Angriff. Teilweise enthält es autobiografische Geschichten. So schrieb ich von unserer Beziehung und da der Roman in der Zukunft spielt, erfand ich etliches dazu. So ließ ich Marco an den Folgen des Drogenmissbrauchs sterben.
Um so geschockter war ich, als ich nur wenige Tage später einen Brief von seiner Nichte erhielt. Darin stand, dass Marco aufgrund des Lebenswandels qualvoll an Krebs gestorben sei, mit gerade mal 53. Das Tragische an der Geschichte: Er hatte erst vor wenigen Jahren die Liebe seines Lebens kennengelernt und geheiratet. Er hinterlässt eine dreijährige Tochter.
Nach dieser Nachricht fühlte ich mich so armselig. Hatte ich schuld an dem tragischen Tod. Fast war ich erleichtert, als ich las, dass er verstorben war, bevor ich es aufgeschrieben hatte. Es war nur eine Ahnung, die mich diese Passage schreiben ließ.
© Irene Hülsermann 2021-04-11