von Theodor Leonhard
“Die Gewebeprobe war leider positiv. Sie haben einen bösartigen Tumor, den wir bald operieren müssen“ Karl hatte das Gefühl, als würde ihm der Boden unter den Füßen weggezogen. Wie ein Sturm fegten alle möglichen Gedanken durch Richards Gehirn und durch sein Herz. Wenn es bösartig war, was sollte aus ihm werden? Aus seiner Frau und seinen noch nicht erwachsenen Kindern? Aus seinem Beruf und dem Haus, das noch längst nicht abbezahlt war? Er kam gar nicht so schnell hinterher, wie ihn diese Szenarien von einem Augenblick auf den anderen mehr als beunruhigten.
“Die Heilungschancen stehen nicht schlecht, Herr Schneider. Die Medizin hat in den letzten Jahren in Bezug auf dieser Krebsart sehr gute Fortschritte gemacht”, redete der Arzt auf ihn ein. ”Wir wollen doch den Teufel nicht an die Wand malen.“
“Nein, wir brauchen den Teufel gar nicht an die Wand zu malen. Er ist schon längst da”, sagte Karl auf dem Heimweg vom Arzt bitter zu sich selbst. Und seine Gedanken wurden immer schwerer.
“Nimm nicht gleich das Schlimmste an, Karl!“, versuchte seine Frau ihn zu beruhigen. “Seh es positiv. Das wird jetzt operiert. Dann wird es wieder gut. Das wird schon wieder.”
Sein bester Arbeitskollege redete ihm gut zu. Seine Freunde vom Stammtisch: Jeder von ihnen kannte mindestens einen, dem es noch viel schlechter ging, als Karl, wie sie sagten. Er solle nicht so schwarz sehen.
Keinen Satz hörte Karl in den nächsten Tagen häufiger als den, er solle doch positiv denken und nicht seinen schweren Gedanken nachhängen.
Er gab sich alle Mühe, diesem Ratschlag zu folgen. Er wollte das Ganze mit Zuversicht angehen. Er wollte ja keine Heulsuse sein. Er wollte doch alles Möglich dafür tun, um über den Berg zu kommen.
Aber je mehr Karl sich um positives Denken bemühte, umso weniger gelang es ihm.Im Gegenteil: Zu seinen sonstigen Gedanken kam jetzt auch noch das Gefühl des Versagens. Noch nicht einmal zum positiven Denken war er in der Lage. War er am Ende selbst schuld daran, dass es ihm nicht nur körperlich immer schlechter ging, sondern zusehends vor allem sein seelischer Zustand stark den Bach runterging.
In einer seiner zahlreichen schlaflosen Nächte bemerkte Karl, dass auch seine Frau nicht schlafen konnte. “Weißt Du, ich krieg das nicht hin mit dem positiven Denken”, begann er leise. “Zu allem anderen kommt dann auch nicht dieser Druck.“ – „Oh, Karl, mir geht es doch genau so. Alle um mich herum erwarten, dass ich mich nicht so sehr wegen deiner Krankheit Sorgen mache, sondern positive Gedanken pflegen soll. Ich kann das nicht mehr.
Damit war der Bann gebrochen. Karl und seine Frau erzählten sich zum ersten Mal seit der deprimierenden Diagnose offen und ohne Scheu und mit viel Tränen von ihren Ängsten und ihren Sorgen, von der Schwere in ihrem Herzen und ihrer inneren Not. Einfühlsam hörten sie sich gegenseitig lange zu.
Dann schliefen sie nach vielen Tagen einmal wieder einen langen und irgendwie gesunden Schlaf.
© Theodor Leonhard 2021-07-09