von Anne Michel
Der Garten hinter unserem Haus war ein sehr besonderer Ort. Ein Kleinod, eingebettet zwischen unserem Haus und der Kirche. Mein Vater hatte den Garten in verschiedene Abschnitte eingeteilt. Die Bereiche waren durch gradlinige, mit Feldsteinen gesäumte Wege, fein säuberlich voneinander getrennt. Der schmale Streifen direkt am Haus war vom Frühling bis zum Herbst ein einziges Blütenmeer. Nachdem sich die Schneeglöckchen vorwitzig ihren Weg durch den Schnee gebahnt hatten, ließen Krokusse, Osterglocken, Tulpen und Sternblumen nicht mehr lange auf sich warten. Späterhin erblühten die Obstbäume in verschwenderischer Fülle und gaben uns damit einen Ausblick auf eine ertragreiche Ernte. Fast zur selben Zeit blühten, gleich rechts unter dem Kirschbaum, die Maiglöckchen und verwandelten diesen Abschnitt für eine kurze Zeitspanne in einen einzigen Blütentraum in Weiß und Rosa.
Die arbeitsreiche Zeit im Garten kam ins Rollen. Der Boden wurde vorbereitet, Sträucher beschnitten. Beete wurden, nach einem genauen Plan, neu gestaltet und die Fruchtfolge wurde geändert. Vom späten Nachmittag an, bis es dunkel wurde, werkelte das Väterchen im Garten. Oft hantierte ich an seiner Seite mit einer kleinen Hacke, schleppte Stangen und allerlei Gerät herbei. Stand ihm im Weg oder löcherte ihn mit unzähligen Fragen, wie zum Beispiel: «Warum werden Bohnen und Erbsen gelegt aber Kraut und Salat gesetzt. Worin besteht der Unterschied zwischen Stangenbohnen und Buschbohnen». Er beantwortete all die nützlichen und unnützen Fragen mit der Geduld eines Engels. Unsere gemeinsamen Stunden im Garten gehören zu meinen schönsten Kindheitserinnerungen.
Fast alles, was wir zum täglichen Bedarf brauchten, wuchs in unserem Garten. Als ich älter wurde, drückte mir meine Mutter ein altes Messer in Hand. «Geh in den Garten und schneide den vordersten Kopfsalat ab. Du kannst auf diesem Weg auch gleich Maggikraut, Dill, Schnittlauch, Petersilie und Zwiebelschloten mitbringen» trug sie mir auf. Stolz wie Bolle, begab ich mich auf den Weg um die Anweisung auszuführen. Zeigte sie mir doch mit diesem Auftrag, dass sie sich sicher war, dass ich aus der Vielzahl der Kräuter, die in unserem Garten wuchsen, die Richtigen heraussuchen würde.
Viel lieber jedoch schnitt ich Blumen, um sie später auf den Friedhof zu bringen. Liebevoll verschönerte ich die Sträuße mit Blattwerk und zarten Ästen und gestaltete so kleine Kunstwerke. In der Erntezeit gerieten meine Mutter und ich oftmals heftig aneinander. Mit sehr viel weniger Geduld als mein Vater ausgestattet, gestaltete sich die Zusammenarbeit mit ihr weniger erquicklich. Wenn es gar zu heftig wurde, rettete mich Väterchen, indem er behauptete, dass er meine Hilfe gerade jetzt in diesem Moment sehr dringend gebrauchen würde. Liebes Väterchen, noch heute sehe ich dein verschwörerisches Augenzwinkern und belohne dich dafür, genauso wie damals, mit einem strahlenden Lächeln.
© Anne Michel 2021-11-16