von Ulrike Nikolai
Ich bin unterwegs zum Friseur. Mir ist nach Frische am Kopf. Ich mag kurze Antennen, die sich in all ihrer Kürze auf Empfang zu stellen vermögen. Mein Mini schnurrt, brummt kraftvoll, wenn ich auf gerader Strecke Gas gebe. Die Windschutzscheibe trägt feinen gelblichen Staub. In der Ferne sehe ich am Hang einer Hügelkette den Verursacher.
WAS FÜR EIN BILD!
Während der kleine Charly sich meinen automatischen Anweisungen fügt, drücke ich auf den Medienknopf. Im selben Moment explodiert die vom Fensterrahmen vor mir begrenzte Landschaft in ein vervielfachtes göttliches Kunstwerk. Was zuvor meine Augen als pure Herrlichkeit aufgriffen, wird nun fluffig aufgebauscht mit Chopins Minutenwalzer Nr. 64 Nr. 1. Ich SEHE nicht mehr. Ich HÖRE nicht mehr. Ich HEHRE das Bild!
Lang Lang spielt: https://www.youtube.com/watch?v=hKILwVH_MdM&t=6s
Sonnengelbe trapezierte Flächen mit sanft gewellten Kanten springen aus sattgrünem Malgrund in die Höhe. Sie schweben darüber. Langlänger greifen die Töne in die Farben, lösen die Landschaftsatome voneinander, lassen sie in rasendem Walzertakt im Höherdimensionalen in sich selbst jagenden Wirbeln umeinander tanzen. Das Bild bläht sich auf, greift mir unter die Haut. Mehr, mehr!!! Meine Antennen brauchen frischen Schnitt wie die Schnittblume, die – neu angeschnitten – wieder frisches Wasser aufnehmen kann. Antennen – neu angeschnitten – offen … langlang … immer kürzere Töne. Charly folgt brav einer langlanggezogenen Kurve. Der K-LangLang trägt. Über mir beginnt es zu schneien. Obstbäume am Straßenrand. Weiße Blütenflocken schweben durch die Luft wie kurzkürzere Töne, verwirbelt von kurzen Fingern auf schwarz-weißen Tasten. Und wieder steigert sich das Tempo, hinaufhinab schwänzeln die flächigen Flausen in fröhlichen Koloraturen ohne Color und meinen Augen genügt ihr Weiß, weil die Ohren Farben sehen. Synergie in Raumzeitwelt.
Noch eine Kurve. Eine Ampel. Grün. Rundherum alles grün. Vorbei am Stadtpark. Grün. Alles angeschwollen im Klang der Saiten. Ein freier Parkplatz. Motor aus. Klanglang aus. Ich steige aus. AUS.
Ina fährt mit flatterndem Kleidchen an mir vorbei die Parkstraße hinab. Ihr Rad schnurrt. Frühling! Hormone weben in der Luft. ÜberALL. Neun Monate später kommt neues Leben ans Licht. So wie meins. MAI bis FEBRUAR. Wachstum.
Im Laden riecht es nach Haarspray. Mir fehlt er schon … Chopin … Lang Lang … Ernüchterung setzt ein: “Wie machen wir’s dieses Mal? Denselben Schnitt?“ – “Nur zu, Sie wissen ja … ein frischer Anschnitt genügt.”
Es wird noch eine Rückfahrt geben … die Blume … frisches Wasser … das Laute – das Leise – sich selbst überholendes Streichen – Vivaldi streichelt den Frühling:
https://www.youtube.com/watch?v=WvJDvW4x9yY
© Ulrike Nikolai 2023-05-26