„Was soll das heißen, wir fliegen nicht nach Mallorca? Das steht schon seit einem halben Jahr fest!“ So sauer hatten mich meine Eltern wahrscheinlich noch nie gesehen. Allerdings hatte ich auch jeden Grund dafür, schließlich hatten sie, ohne mich und meine kleine Schwester Linda zu fragen, den Flug auf die wohl berühmteste Insel Spaniens gestrichen! „Carla, wir können verstehen, dass du wütend bist, aber wenn das Bodenpersonal des Flughafens streikt, können wir leider auch nichts machen“, meinte Mama. Ja, das verstand ich schon, aber ich wollte mich gegenüber meiner Erziehungsberechtigten in dieser Situation auch rein aus Prinzip nicht geschlagen geben. Also verschränkte ich die Arme vor der Brust und schmollte. Ich konnte mich kaum noch erinnern, wann ich das letzte Mal geschmollt hatte, vielleicht in der Grundschule. Jetzt, in der achten Klasse, war ich vielleicht schon zu groß dafür, aber manchmal, zumindest denke auch das, muss man einfach mal schmollen. Das tut gut. „Aber wir reisen trotzdem!“ Dieser Satz holte mich aus meinen abschweifenden Gedanken wieder in die Realität zurück. An einen anderen Ort? In meiner Fantasie stellte ich mir schon die verrücktesten Szenarien vor: Kitesurfen auf den Seychellen, Alpaka-Wanderungen im Himalaya, auf Expedition im Amazonas-Regenwald … „Wir fahren an die Nordsee!“ Mein Vater sagte das ernsthaft so, als sei es etwas, worauf man sich freuen könnte. Kurz nachdem gesagt wurde, dass wir nicht nach Mallorca fliegen. „Ich freue mich auf die Nordsee! Da kann man sicher Seehunde streicheln!“, freute sich Linda. Musste sie mir jetzt auch noch in den Rücken fallen? Aber was verurteilte ich sie, schließlich war sie erst acht und konnte Mallorca wahrscheinlich nicht einmal von Grönland unterscheiden.
Nach ein bisschen Gezeter gab ich mich dann doch irgendwann geschlagen. Schließlich hatte ich ja nicht zu entscheiden, wo es in dem Urlaub geht. Aber ich hatte mir fest vorgenommen, in diesem Urlaub keine Freude zu zeigen.
„Komm, der Koffer kommt noch unter die Tasche hier!“ Meine Mutter, total in Urlaubsstimmung, zischte förmlich zwischen Haus und Auto hin und her, um die vielen verschiedenen Sachen ins Fahrzeug zu packen. Ich dagegen saß schon auf der Rückbank und schaute ins Handy. Gerade schrieb ich mit meiner Freundin Katharina. Sie war in derselben Klasse wie ich und verstand mich in dieser Situation viel mehr als meine Eltern. Aber kurz nachdem ich zu einer Antwort auf ihre Frage ansetzen wollte, rief Linda: „Carla, Carla, können wir eine Runde ‚Ich sehe was, was du nicht siehst‘ spielen?“
Und da ich wusste, dass, wenn ich nicht spielen würde, sie einen sehr großen Aufstand machen würde, fing ich an: „Ich sehe was, was du nicht siehst …“
© Charlotte Gröhbühl 2025-04-16