Zweiundachtzig war sie damals, und es war mir eine Ehre, dass sie im Hochsommer von ihrem Landhaus nach Wien gekommen war. Die Klimaanlage in dem kleinen Theater hat ihr den Entschluss sicher erleichtert. Meine erste Lesung in einem kleinen Verlag im 18. Bezirk, ich war mächtig aufgeregt. Meine bunten Freunde umarmten mich lachend. Da kam Mama, sah in die Runde, selbst an diesem Tag mit diesem “Igitt-igitt”-Blick. Das war eine unserer üblichen Differenzen: sie fand meine outfits immer schrecklich, und nun sah sie sich hier umringt von ähnlich wilden Weibern. Beinahe tat sie mir leid.
Als sie hereinkam, die Schleuse zwischen der draussigen Hitze und der Raumkühle offensichtlich genießend, zwischen meiner Schwester und meinen Töchtern, ging mir das Herz auf. Ich wunderte mich darüber, dass meine Freude vor allem meiner Mama galt, mit der mich zu dieser Zeit weitaus weniger verband als mit Töchtern, Schwester und Freunden. Meine erste Buchpräsentation widmete ich meiner Mama, auch wenn ich meine Freude viel besser mit den anderen teilen konnte.
Sie ging mit kleinen Schritten, blickte forschend um sich, – das Ambiente gefiel ihr. Etwa in der zehnten Reihe wollte sie Platz nehmen, und sie war nicht zu ĂĽberreden, näher zum Podium zu kommen. So als ob ihr das nicht zustĂĽnde. Diese Art von Bescheidenheit kannte ich seit jeher an ihr, und ich wusste auch, dass sie sich nachher ein bisschen darĂĽber echauffieren wĂĽrde, dass sie nicht gut aufs Podium gesehen hatte. Typisch Mama halt. Ich war wegen der Lesung viel zu sehr aufgeregt, als dass ich sie nach vorne gedrängt hätte.
Die Lesung begann. Blumen am Pult neben der Leselampe, die leise Hintergrundmusik verebbte, ich schaute in mein Publikum. Mein Publikum! Viele Freunde verstreut im Raum, fröhliche Farbtupfen, vorwiegend junge oder jüngere Menschen. Mama, so unscheinbar in ihrem beigen Sommerkleid, erkannte ich an ihrem weißen Haar. Unsicher hielt sie sich an ihrer Handtasche fest. Ich wusste genau, was sie beinhaltete, Mamas Handtaschen boten keine Überraschungen. Und wieder überflutete mich so ein herzwarmes Gefühl. Jetzt erkannte ich den Unterschied zu den anderen: bei denen ging es mir fröhlich gut und gleichwertig. Bei Mama schwang stets eine kleine Sehnsucht mit. Von ihr wollte ich am meisten anerkannt werden.
Schau Mama, horch Mama, deine Tochter hat auch über dich geschrieben. Nein nicht über die Mutter, die unfähig war ihre Liebe zu zeigen, weil sie sie selbst nie erlebt hat. Ich hab dich so beschrieben, wie ich mir dich gewünscht hätte. Es klingt leicht und innig. Ich kann dir nicht böse sein, ich hab nur Sehnsucht nach dir.
Das Publikum applaudierte, ja auch meine Mama klatschte sittsam mit. Sie war für mich der Mittelpunkt meines Publikums, aber am schwersten zu erreichen. Bis zu ihrem Lebensende hatten wir noch achtzehn Jahre, uns einander anzunähern, und als sie ging wars wirklich gut zwischen uns…
© rebella-maria-biebel 2022-02-17