Man muss weitermachen.

Marielle Kreienborg

von Marielle Kreienborg

Story

Laufen. 42,195 Kilometer. Warum tue ich mir an? Um mich herauszufordern, vielleicht, nicht in Trott zu verfallen. Routine zu hinterfragen: ihre Verlockungen als Lähmungen, ihre Vorzüge als meine Feigheit anzusehen. Die Wege, die einen wachsen lassen, sind unbequem. Man kann sie nicht umgehen, muss hindurch, um gestärkt aus ihnen hervorzugehen.

Es tut gut, an Grenzen zu stoßen, körperlich wie mental. Zu glauben, Wachstum kenne kein Ende, ist ein Trugschluss, für den andere mit dem Leben bezahlen. Es tut gut, zu starten, ohne bereit dafür zu sein. Zu wagen, ohne die nötige Vorbereitung. Es tut gut, zu erfahren, das vieles zu viel , zu groß, zu anstrengend, zu kräftezehrend ist für einen selbst: den Körper, die Weltanschauung, den Erfahrungshorizont. Es tut gut, überfordert zu sein, geplagt von Schmerzen und Zweifeln , und weiterzumachen, trotzdem. Meine Psyche ist nicht aus Eisen. Sie ist labil, gewillt, bei den ersten Anzeichen von Unbequemlichkeit die Flinte ins Korn zu werfen. Auf 42,195 Kilometer habe ich mehrmals mit dem Gedanken gespielt: in die nächste U-Bahn zu steigen, meine Laufschuhe und mich auf den Grünstreifen zu schmeißen, „Scheiß drauf“ zu sagen, in den Besenwagen zu steigen.

Was vielen fehlt, auch mir, ist eine Dosis Ungemütlichkeit im Leben. Geplagt zu werden, von Hüftschmerzen, deren Hiebe sich anfühlen wie Stecknadeln, das Bein piesackend, ausstrahlend, auf Laune und Rücken. Nach fünfundzwanzig Kilometern fühlte ich einen Lähmungsschmerz, der mein linkes Bein unterwanderte und jeden weiteren Schritt unmöglich machte. Mir fehlten 17, 195 Kilometer.

„Man muss weitermachen“, hat der Namenlose bei Beckett gesagt. „Ich kann nicht weitermachen, man muss weitermachen, ich werde also weitermachen.“

Es gibt, auf und neben der Strecke, eine, in anderen Kontexten rar gewordene, Solidarität: ein Gefühl der Verbundenheit, des Zusammenhalts, für den alte wie junge Menschen, blinde Menschen, Menschen ohne Beine, mit Prothesen, Menschen, die für oder gegen etwas laufen, gemeinsam einstehen, indem sie einander aufmunternde Blicke und Worte zuwerfen, ehe sie ihre vor Schmerz schreienden Körper weiterschieben. Mit Gehpausen, mehr hinkend als laufend, voran. „Come on youngster“, sagte Chris, 76, ausMinneapolis zu mir: „You gotta keep running to keep an old man running.“ „Aber es ist noch so weit“, beklagte ich mich. „Es ist weit“, sagte Chris, „aber wir kommen an.“

Und er hatte Recht: wenn man nicht aufgibt, kommt man früher oder später dort an, wo man hinwill, in seinem eigenen Tempo, auf seinem eigenen Weg. Vergleiche bringen nichts. Viel bringt, sich als Teil von etwas Größerem zu fühlen, das uns übersteigt, uns und unsere klägliche Individualität.

Als ich fünf Stunden nach Start die vier triumphierenden Pferde auf dem Brandenburger Tor sah, wusste ich: Dabei sein ist alles, das ist nicht nur Blabla. In jeder Faser meines Körpers konnte ich spüren: Dieser Satz war wahr.

© Marielle Kreienborg 2021-09-27

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