von Michelle Berger
Als ich Horst an diesem Tag besuche und seine Zimmertüre öffne, da sehe ich ihn gedankenverloren in den Spiegel sehen. Er begrüßt mich, ohne den Blick abzuwenden.
„Was machst du da?“ Frage ich.
„Komm mal her“, sagt er und winkt mich zu sich. Ich muss schmunzeln. In den letzten Tagen ist Horst immer gangunsicherer geworden, weshalb die PflegerInnen ihn gebeten hatten, nicht mehr allein aufzustehen. Da er sich daran nicht hielt, hatten sie eine Klingelmatte vor sein Bett gelegt um rechtzeitig zu ihm eilen zu können. Scheinbar hat er aber einen Weg gefunden den Alarm nicht auszulösen.
Er winkt genervt ab als er meinen Blick auf die Matte gerichtet bemerkt „Ist doch Blödsinn, so klapprig bin ich jetzt auch wieder nicht!“
„Sie meinen es ja nur gut“, sage ich lachend.
„Ja, genauso wie die Physiotherapeutin, die mit mir im Schneckentempo einmal den Gang entlangläuft und dann wieder umdreht“.
„Du sollst dich eben nicht übernehmen“.
„Ach übernehmen, ich sterbe hier noch an Langeweile anstatt an Krebs!“ Ich muss über seinen makaberen Witz lachen.
„Ist doch wahr, außerdem wird man doch noch etwas Spaß haben dürfen, auch wenn man dem Tode geweiht ist, oder?“ Sein übliches Grinsen tritt zurück auf sein Gesicht.
„Ich bin mir sicher, dass hier auch ein paar coole Sachen passieren“.
„Eine Kunsttherapeutin war da, so was konnte ich früher schon nicht. Mochte ich auch noch nie. Das künstlerische Talent war vollständig bei meiner Schwester gelandet. Aber heute Nachmittag kommt die Musiktherapeutin, die ist klasse! Kennt echt jedes Wanderlied!“
Ich muss lächeln über Horsts Freude. Und auch darüber, dass er seinen Humor nicht verloren hat.
„Und warum stehst du hier vor dem Spiegel?“
„Guck mal“, er deutet auf sein Spiegelbild „Was siehst du?“
„Na, dich!“
„Einen sehr alten Mann, was?“ er grinst und schaut wieder sein Spiegelbild an.
„Aber ich weiß noch genau wie ich mal aussah. Und wenn ich mich jetzt ansehe, zwar faltig und von meiner Krankheit gezeichnet, aber dennoch sehe ich den jungen, hoffnungsvollen Mann mit den vielen Plänen. Ich sehe meine Erinnerungen“, ich lächle.
„Irgendwann wirst du auch einen Blick in den Spiegel werfen und all das Vergangene in deinen Augen wiedersehen. Das Gute und das Schlechte.“
Wir beide wissen, dass heute mein letzter Besuch ist und es fällt mir furchtbar schwer passende Worte für diesen Abschied zu finden.
„Ich wünsche dir alles Gute und danke dir von Herzen dafür, dass du mir deine Geschichte erzählt hast.“ Er lächelt ein trauriges Lächeln.
„Nein, ich wünsche dir alles Gute. Mein Leben ist vorbei, aber deines hat erst angefangen. Genieß es und nutze jede Chance, die sich dir ergibt“, mit Tränen in den Augen zieht er mich in eine Umarmung.
Am nächsten Tag gab es den lange geplanten letzten Besuch von Melati, am Tag darauf verstarb er. Bei seiner Trauerfeier lege ich rosafarbene Hortensien auf sein Grab und lächele. Aus meiner ursprünglichen Idee war etwas noch viel Besseres geworden.
© Michelle Berger 2024-08-22