von Klaus Schedler
„Lasst Ernst Thälmann frei!“ stand ganz in der Nähe unseres Hauses in fast verwitterten Lettern an einer Gebäudemauer in der Fabrikstraße. Wie auch andere leitende Angestellte hatte mein Vater eine Haushälfte zwischen Bahnhof und den uns umgebenden Baumwollspinnereien zugewiesen bekommen. Dort „mitten drin“ verbrachte ich meine Kindheit und Jugend: Im Münsterland an der holländischen Grenze und die Textilindustrie war damals kennzeichnend für unsere Stadt.
„Ernst Thälmann“ so mein Vater „war ein kommunistischer Arbeiterführer und schon in der Weimarer Republik verhaftet und 1944 im KZ Buchenwald ermordet worden.“ Im Geschichtsunterricht lernten wir allerdings so etwas nicht. Das Dritte Reich wurde insgesamt eher kursorisch behandelt; umso detailreicher wurde uns demgegenüber das Schicksal der nach Kriegsende Vertriebenen dargelegt.
Zugegeben, in den 60ern waren wir Jugendliche nahezu manisch politisiert. Angesichts der festgefahrenen Parteienstrukturen und allzu vieler ungelöster Probleme der deutschen Vergangenheit haben wir uns nach neuen Perspektiven gesehnt und geradezu selbstverständlich haben wir die Studentenbewegung in Frankreich und Deutschland als Hoffnungsträger einer uns gemäßen Zukunft gesehen und ganz unverhohlen bewundert. Je linker desto besser und alles andere war faschistoid. Meine erste Ernüchterung kam dann mit der Niederschlagung des Prager Frühlings und sie war nachhaltig.
Ich hatte in Wien zu studieren begonnen, stand aber in den ersten Jahren in stetem Kontakt mit den deutschen Freunden und hab sie des Öfteren in Münster besucht. Bei einem dieser Besuche lernte ich eine Kollegin kennen, die mir voller Stolz erzählte, dass sie in Münster eine besonders symbolträchtige Studienadresse habe, weil ihre Straße nach einem Arbeiterführer benannt sei. Nun kenne ich Münster als erzkonservativ-bürgerliche Stadt und konnte mir das nicht vorstellen. Ich fragte daher „Wie heißt denn die Straße?“ „Das ist die Telemannstraße.“ Oje, die liebe Kollegin hatte in ihrem politischen Eifer anscheinend den Komponisten Telemann mit dem Kommunisten Thälmann verwechselt. Ach, Komponist oder Kommunist – ist doch alles gleich!
Dass allerdings Münster in Sachen „Straßennamen“ tatsächlich einige Überraschungen zu bieten hatte, war mir nicht unbekannt. So gibt es, für alle Österreicher erfreulich, im Osten der Stadt eine Wiener Straße und eine Kärntner Straße und daneben auch einen Salzburg- und einen Innsbruckweg. Getrübt wird diese Freunde allerdings dadurch, dass zu diesem Ensemble auch die Ostmarkstraße gehört – gerade so, als habe es weder vor noch nach dem NS-Anschluss jemals ein Österreich gegeben.
Wer allerdings um die Schwierigkeiten weiß, als es 2012 in Münster darum ging, den Hindenburgplatz in Schlossplatz umzubenennen, der zweifelt nicht daran, dass Münster wohl eher einen Thälmannstraße bekommt, als dass man die Ostmarkstraße je umbenennt.
© Klaus Schedler 2019-04-11