von Norbert Netsch
Manfred Wurm war von 1995 bis 2012 Bezirksvorsteher von Liesing, und er machte damals eine neue Politik, die sogar in seiner eigenen Partei skeptisch gesehen wurde, von den BürgerInnen aber geschätzt wurde. Er setzte sich mit allen zusammen, die Ideen hatten, und fragte nie nach deren politischer Gesinnung.
Das war tatsächlich über alle Parteigrenzen hinweg noch neu, weil damals immer die erste Frage war: „Ist das einer von uns?“ Und wenn es keiner von uns war, dann war alles schwer bis unmöglich. Damals herrschte die Überzeugung, dass gute Ideen von politischen MitbewerberInnen verhindert werden sollten, weil sie der eigenen Partei schaden könnten.
Diese Haltung verhindert Gutes und nützt vielleicht tatsächlich der eigenen Partei. Der Parteisoldat ist damit zufrieden. Der engagierte Bezirkspolitiker, der ganz pragmatisch will, dass möglichst viele Menschen im Bezirk zufrieden sind, freut sich über gute Ideen, egal, woher sie kommen.
So kann Manfred Wurm in seinem Podcast auch über eine Fülle von erfolgreichen Projekten mit Bürgerbeteiligung sprechen, wobei er immer betont, dass ihn die politische Haltung der Ideenbringer nie interessiert hätte. Man hört trotzdem deutlich, dass Manfred Wurm ein überzeugter Sozialist ist, und er erzählt auch, wie er von seinem Elternhaus in diese Richtung geprägt wurde.
Wie unglaublich schön ist es, wenn jemand eine politische Überzeugung hat und niemanden verurteilt, der Demokrat ist und eine andere politische Überzeugung hat!
Dieser Stil wird in Liesing auch jetzt noch so gelebt. Es werden Brücken gebaut und keine Gräben gerissen. Der Geist, mit dem Manfred Wurm den Bezirk 17 Jahre regiert hat, lebt auch heute noch weiter. Diese Tatsache muss eigentlich für einen Politiker schöner sein als jedes Bauwerk, das saniert oder neu gebaut wurde, weil es nichts Wichtigeres gibt als eine gute geistige Haltung.
Was in der Bezirkspolitik funktioniert, klappt in der Bundespolitik derzeit gar nicht. Da lässt man sich offensichtlich von Spindoktoren beeinflussen, die ganz nach amerikanischer Prägung meinen, es genüge nicht mehr, die politischen Ideen der Mitbewerber zu zerstören, sondern man möge die Mitbewerber selbst zerstören. Was dabei offensichtlich in Kauf genommen wird: Das Vertrauen in die Politik wird ebenfalls zerstört.
Ich kann mich noch gut an die Zusammenarbeit mit Manfred Wurm erinnern, und ich weiß es auch von seinem Nachfolger Gerald Bischof: Es bestand immer Vertrauen, auch von den politischen MitbewerberInnen. Von diesem Vertrauen und dem Meinungsaustausch auf Augenhöhe ist unsere Bezirkspolitik bis heute geprägt. Das war nicht immer so und das wird vielleicht einmal nicht mehr so sein, wenn die handelnden Personen wechseln.
Manch einer fragt sich vermutlich, was der Sinn dieser Geschichte sein soll. Eine einzige Frage: Warum verstehen so viele PolitikerInnen oder deren Spindoktoren nicht, dass Vertrauen in der Politik am wichtigsten ist?
© Norbert Netsch 2021-10-30