von Clarissa_Smiles
Ja, und da war ich nun und hatte mein ersehntes Landleben! Und sogar in meiner zweiten Heimat! Einfach märchenhaft! Manchmal überkam mich Jubel, weil ich diese geliebte Stückchen Erde nicht mehr verlassen brauchte. Alles empfand ich so intensiv wie noch nie zuvor, die Luft, die Vegetation, den Gesang der Vögel. Unbändige Freude darüber, dem Stadtleben entronnen zu sein, stieg bisweilen in mir auf.
Meine Euphorie hielt sich jedoch in Grenzen. Von einem verwöhnten Single-Dasein in eine Familie katapultiert zu werden, die recht primitiv leben musste, ohne ein Zurück, ist ziemlich heftig. Noch dazu war ich in eine frisch traumatisierte Familie geraten. Psychologische Kenntnisse hatte ich nur minimal und fühlte mich etwas hilflos in meiner neuen Rolle.
Ich spürte, dass sich die vier von mir Stabilität erhofften, doch diese hätte ich gerade selbst gut brauchen können. Manchmal kamen wahrlich gemischte Gefühle hoch. Viel Beherrschung war nötig, um gelassen zu bleiben.
An die elf Jahre hatte ich in Wien verbracht, zuletzt in einer sehr komfortablen Wohnung mit allerlei technischen Finessen. Die Umstellung traf mich unvorbereitet. Alles war so anders.
Privatleben gab es für mich von nun an nicht mehr. Daran würde ich mich gewöhnen müssen. Alles spielte sich in dieser Familie auf Tuchfühlung ab. Es gab kein eigenes Zimmer für mich. Es gab zwei Schlafzimmer. Eins für die drei Söhne und eins für uns, das Paar, durch die Küche voneinander getrennt, wie es in dieser Region typisch war.
Aber ich war es ja, ich ganz allein, völlig unbeeinflusst und nach reiflicher Überlegung, die diesen Sprung ins eiskalte Wasser gewagt und sich für ein völlig anderes Leben entschieden hatte!
Nun hatte ich plötzlich einen Mann und drei Kinder, zwei davon in der Pubertät, und lebte auf dem Land. In einem Haus, in dem man Wasser auf dem Holzherd erhitzen musste, um warmes Wasser zu bekommen. Der Herd musste im Winter und im Sommer eingeheizt werden.
Auch sonst war alles ziemlich karg, da die Hausrenovierung durch die düsteren Familienereignisse ins Stocken geraten war.
Es ist anders, irgendwo unbeschwert auf Sommerfrische zu sein als dort dauerhaft zu leben. Umso mehr, wenn kurz davor ein brutaler Mord seine Schatten auf die Bewohner geworfen hatte und noch nicht verarbeitet war.
Viele neue Eindrücke waren folglich ein ziemlicher Kulturschock für mich. Von Verwahrlosung konnte zwar nicht die Rede sein, aber es fielen mir seltsame Gepflogenheiten auf.
Der Kühlschrank befand sich nicht in der Küche, sondern fünfzehn Meter weiter in einer Vorratskammer mit Lehmboden. In der Tenne fand ich den Boden mit Übersiedlungskram bedeckt, der dort schon Jahre unausgepackt lagerte. Bei der Kleidung der Kinder war kein System einer Trennung in saubere Wäsche und Schmutzwäsche zu erkennen. Einer der drei hatte eine Vorliebe für weiße Socken, mit denen er auch im Freien barfuß umherlief.
Welten prallten aufeinander. Aber wo Liebe ist, ist immer ein Weg.
© Clarissa_Smiles 2020-12-16