Marienkäfer im Winter

Carolin Gerum

von Carolin Gerum

Story

Es ist Silvester. Jedes Mal muss ich aufs Neue nachlesen, wie es richtig geschrieben wird. Ich habe es schon mit den verschiedensten Eselsbrücken versucht, die aber genauso schnell vergessen, wie ich sie mir ausgedacht habe. Platz für anderes. Wichtiges. Wie zum Beispiel: Was macht eigentlich der Marienkäfer im Winter?

Seit ein paar Tagen sitzt einer hier bei mir am Küchenfenster. Wir haben tiefe kleine Fenster, mit Doppelflügeln und Fensterbrettern aus Stein, da ist es immer ein bisschen kalt. Gut um Getränke oder Plätzchen zu kühlen. Oder eben Marienkäfer.

Als ich ihn das erste Mal entdeckt habe, dachte ich mir, das ist ein gutes Zeichen. Marienkäfer bringen Glück und wenn einer bei mir wohnt, dann ist das ja wohl mächtig viel Glück! Und ich brauche Glück. Jede Menge und jeden Monat etwas mehr. Um mich aufzuraffen und weiterzumachen. Die Zeit der Blutung nutzen, um in die Tiefe zu gehen, alten und neuen Schmerz auflösen und Vertrauen haben, dass es diesmal bestimmt klappt.

Ich bin nicht geduldig. So gar nicht. Gefühle finde ich anstrengend, Vertrauen ist mir suspekt und ich habe gerne generell alles im Griff. Außer das Kinderkriegen, das will nicht.

Dabei mache ich doch, was ich nur kann. Ich gehe in die Therapie, löse alten Scheiß auf, schaue hin und rede sogar noch darüber. Esse gesund, bewege mich – auch wenn gerade alle Schwimmbäder entweder schließen oder renovieren, und Schwimmen so ziemlich der einzige Sport ist, den ich wirklich gerne mache. Für die anderen Sachen bin ich zu grobmotorisch und unkoordiniert.

Seit Monaten fühle ich, rede, weine, bin erschöpft und erleichtert. Habe wieder Hoffnung.

Diesmal haben wir sogar ernsthaft nachgeholfen, nicht nur nach NFP. Nein, ernsthafter Erwachsenen-Scheiß; mit Spritze, für die Eisprung Garantie, dann Sex und jeden Abend Progesteron-Zäpfchen. Damit das befruchtete Ei sich gefälligst richtig einnistet und dann auch eingenistet bleibt und wächst und gedeiht, bitteschön! Wenn das keinen Erfolg verspricht! Mein Mann hat laut Arzt „Super-Sperma“. Glückwunsch. Daran liegt es also nicht. Auch gut, ich plane eh gerne. Ich meditiere und entspanne. Rede meinen Eizellen gut zu. Und irgendwann hängt meine Hoffnung an den kleinen Marienkäfer in meiner Küche. Solange er da ist, ist alles gut.

Ich blute und weine und habe gelesen, dass der arme Marienkäfer verdurstet, wenn er weiter bei mir wohnt. Ich wollte ihm ein Nest bauen, mich um ihn kümmern – aber anscheinend bringt ihn das um. Er muss raus in die Kälte, um Winterstarre zu halten und zu überleben. Also sammle ich den kleinen Kerl ein. Setze ihn in meinen Balkonkasten, zu den toten Erdbeeren vom vergangenen Sommer und decke ihn vorsichtig zu. Mit weichem braunen Laub, Moos, Tannenreisig, den krümeligen Resten vom Adventskranz und meiner bröckeligen Zuversicht. Und hoffe, wenigstens er überlebt. Winterstarre ist gar nicht so schlecht. Aufwachen, wenn der Frühling da ist. Indem das Leben sprießt und die Marienkäfer glücksbringend umherfliegen.

© Carolin Gerum 2024-02-29

Genres
Anthologien
Stimmung
Sad, Hopeful