von Jakob Rinke
Stell dir vor, du wirst von einem Moment auf den anderen eingesperrt – ohne Freiheit, ohne Aussicht auf Rettung. Was würdest du tun? Sport treiben, Bücher verschlingen, Briefe schreiben? Der Marquis de Sade entschied sich für etwas… anderes. In der Bastille, umgeben von Kälte und Dunkelheit, begann er, hemmungslose erotische Geschichten zu verfassen – der Legende nach sogar mit seinem eigenen Blut an die Wände seiner Zelle. Während andere Insassen Gebete murmelten, schrieb er Obszönitäten, die die Moral seiner Zeit herausforderten. Doch warum war dieser Mann überhaupt inhaftiert? Und was trieb ihn zu Geschichten, die bis heute als die umstrittensten der Literaturgeschichte gelten?
De Sade hatte ein bemerkenswertes Talent dafür, genau das zu tun, was man ihm verbot. Geboren 1740 in Paris, wuchs er in einer aristokratischen Familie auf, was ihn jedoch nicht davon abhielt, sämtliche gesellschaftliche Normen mit Anlauf zu missachten. Während andere Adlige sich mit höfischer Etikette beschäftigten, interessierte sich de Sade vor allem für Exzesse und Ausschweifungen. Dass er früher oder später im Gefängnis landen würde, war also weniger eine Frage des Ob, sondern eher des Wann und des Weshalb. Und die Liste des „Weshalb“ war lang: Skandale, Affären, mutmaßliche Ausschweifungen, eine gewisse Vorliebe für das Extreme – all das machte ihn zum Dauergast in diversen Zellen. Doch statt in seiner Haftzeit Buße zu tun, dachte er sich: Warum jammern, wenn man schreiben kann? Und so entstanden in den Kerkern der Bastille und später im Irrenhaus von Charenton die Werke, die ihn unsterblich machten. Aber weil Papier damals begrenzt war, soll er angeblich mit seinem eigenen Blut an die Wände weiter geschrieben haben.
Doch de Sade war mehr als nur ein Skandalautor mit einer Vorliebe für Exzesse. Für ihn war Moral nichts anderes als ein künstliches Konstrukt, das von Religion und Gesellschaft erschaffen wurde, um die menschlichen Triebe zu zügeln und die Menschen kleinzuhalten. Die Natur selbst kennt keine Gesetze, kein Gut und Böse – warum sollte der Mensch sich also an diese erdachten Normen binden? In seiner radikalen Philosophie stellte de Sade Lust über alles, ohne Rücksicht auf gesellschaftliche oder ethische Maßstäbe. Für ihn bedeutete Freiheit, keine Grenzen zu akzeptieren – weder geistige noch körperliche. Alles, was Vergnügen bereitet, sei legitim, auch wenn es andere schockiert oder verstört.
Diese kompromisslose Denkweise machte de Sade zu einem Feind von Kirche und Staat und führte dazu, dass er als eine der umstrittensten Figuren der Geistesgeschichte gilt. Einige sahen in ihm einen Vordenker der individuellen Freiheit, einen Denker, der gegen die Tyrannei der gesellschaftlichen Normen aufbegehrte. Andere hingegen betrachteten ihn als Provokateur ohne moralischen Kompass, der die Menschlichkeit aus den Augen verlor. Doch egal, wie man ihn bewertet, eines steht fest: Seine Ideen waren zu radikal für seine Zeit – und vielleicht sind sie es auch heute noch. De Sade stellte die Grundlagen der Moral und der gesellschaftlichen Ordnung infrage und zwang seine Zeitgenossen, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, wie viel Freiheit der Mensch wirklich verdient.
© Jakob Rinke 2025-06-01