Erschrocken kullert das kleine Mädchen den Abhang hinunter, als ein Mann mit wildem Bart, einer einseitigen Augenbinde und rußgeschwärztem Gesicht hinter den Büschen erscheint. Schnell läuft sie zu den Eltern in die Berghütte, in der die Familie seit ein paar Tagen ihre Sommerfrische verbringt. Die Eltern erzählen eine unglaubliche Geschichte – der Mann heiße Simon und lebe seit vielen Jahren in der alten Almhütte unter dem Weg, der zu ihrem Wochenendhaus führt. Er war im Tal sehr unglücklich und verbringe Sommer wie Winter allein in den Bergen. Obwohl er wild aussah, sei er harmlos und sie brauche keine Angst zu haben. Vom schlechten Gewissen geplagt, dass sie den Mann durch ihr Erschrecken und Davonlaufen gekränkt habe, pflückt sie ein Sträußchen Blumen und will es ihm schenken. Aber entweder ist er nicht zu Hause oder er will die Tür nicht öffnen. Er ist im Laufe der Zeit leutscheu geworden. So steckt sie das Büschel an die Hüttentür und ist sich sicher, dass er ihr Zeichen verstehen würde.
Anekdoten gibt es sicher viele, die sich um den Einsiedler Simon Wildauer im Almgebiet Märzengrund im Zillertal ranken. Die wenigen Alm- und Hüttenbesitzer kennen ihn als Sonderling, der auftaucht und wieder verschwindet, mit niemandem redet, aber niemals eine Gefahr ist. Nur ein Jäger und ein Almerer aus dem Salzburgischen haben Kontakt zu dem Alten und ab und zu kommt seine Schwester, um ihm Nahrungsmittel zu bringen.
Die Gerüchte im Tal erzählen von der besitzergreifenden, geizigen Mutter und dem herrschsüchtigen Vater. Den reichen Hof hätte er übernehmen sollen, er aber sei vor den Erwartungen der Eltern, der Gier und dem Lärm der Welt geflüchtet, um ganz der Natur und der Stille zu leben. Verliebt soll er gewesen sein und die Mutter habe ihm diese Liebe verboten. Auch eine psychische Krankheit wurde vermutet, Depression oder Schizophrenie, aber das bleibt Spekulation.
Diese Geschichte, die so unglaublich ist, spielte sich nicht vor Jahrhunderten ab, sondern in der jüngsten Vergangenheit. 2008 nahm sich Simon in einem Pflegeheim das Leben, weil er, der 40 Jahre seines Lebens in absoluter Freiheit mit den Falken und Adlern, den Fischen und Waldtieren gelebt hat, die Zivilisation nicht ertragen konnte.
Eine Krankheit hatte ihn ins Tal gezwungen. Die Schwester wollte ihn nicht in Schmerzen und Verwahrlosung in seiner kleinen Hütte ‘verrecken’ lassen. Der Vater hatte sich aufgehängt, die Mutter war wegen eines Schlaganfalls im Rollstuhl. So steht es im Theaterstück ‘Märzengrund’ von Felix Mitterer. – Ein Stoff, der mit zu den eindrucksvollsten Werken von Mitterer gehört.
Im Sommer konnte ich auf Einladung der oben erwähnten Freunde diesen Ort besuchen. Der Mann verbringt seit seiner Kindheit die Ferien in seinem Wochenendhaus und hat Simon selbst gekannt, aber nie mit ihm gesprochen. Die vor sich hin modernde Hütte hat mich berührt und einem Impuls folgend steckte ich ein paar Wiesenblumen an die Tür. Simon ist nicht vergessen.
© Christine Sollerer-Schnaiter 2022-08-24