»Nicht wenige von ihnen hatten ein buntes Federkleid. Männchen und Weibchen konnte man an unterschiedliche Farben oder Größen ihrer Federn erkennen. Viele waren äußerst flink und jede Art hatte ihre eigene ganz individuelle Lebensweise«, wusste die alte Dame zu berichten und widersprach damit sogar den Jurassic Park-Filmen, die vor ein paar Jahren die allgemeine Sicht auf Dinosaurier grundlegend verändert hatten.
Bei diesem Blockbuster musste Oma Willi immer herzerweichend lachen, wenn sie zum Beispiel einen der Film-Dinos lautstark brüllen hörte. Denn diese Tiere brüllten nicht wie Löwen und trompeteten nicht wie Elefanten, war sich Oma Willi sicher. Ihre Laute klangen vielmehr vogelähnlich. Krächzen, Krähen, Pfeifen aber auch Knurren und Brummen in verschiedenen Tonlagen erfüllte die Luft ihrer Zeit. Und vor allem, das betonte Oma Willi stets mit erhobenem Zeigefinger, kündigten sich die Raubsaurier ganz bestimmt nicht mit einem markerschütternden Brüllen bei ihren Beutetieren an.
»Was würdet ihr tun, wenn ihr in der Ferne einen Tyrannosaurus rufen hört?«, fragte sie ihre Enkelinnen und schaute vergnügt in deren weit aufgerissene Augen.
»Weglaufen?«, antwortete die kleine Sophie und Celine musste kräftig lachen, bei der Vorstellung, dass der T-rex mit dem Brüllen jedes Mal sein Mittagessen vertreiben würde.
»Vielleicht hatte er erwartet, dass die anderen Dinos vor Schreck tot umfallen, wenn sie ihn bläken hören?«, ergänzte Celine kichernd.
Woher ihre Oma all das zu wissen glaubte, hatte sie ihren Enkeln nie erzählt. Dieses und sicher noch viele weitere Geheimnisse hatte sie mit ins Grab genommen, nachdem ein langjähriges Krebsleiden sie von einem auf den anderen Tag aus dem Leben gerissen hatte.
Mit dem Entrümpeln ihrer Wohnung waren die Verwandten äußerst flott zu Werk gegangen. Zu schnell, wie Celine fand. Gerne hätte sie dort noch einmal Abschied genommen und sich an all die schönen Tage mit Oma Willi erinnert. Aber alles, was man nicht zu Geld machen konnte, wurde kurzerhand dem Sperrmüll, der Altkleidersammlung oder der Papierverwertung zugeführt. Somit auch die meisten der handgeschriebenen Dinosauriergeschichten. Ob diese einen emotionalen Wert für Celine und Sophie hatten oder nicht, wurde dabei keine Sekunde lang in Erwägung gezogen. Dadurch verschwand nicht bloß ihre geliebte Großmutter, sondern ebenso deren Vermächtnis für immer aus dem Leben der Mädchen.
Einzig zwei Sachen waren Celine und ihrer Schwester geblieben: Eine Kette mit einem großen Opal-Anhänger und eines der Notizbücher. Das Amulett hatte Oma Willi ihrer Tochter Nadine bereits Jahre zuvor vermacht. Diese sollte ihn später an ihre eigenen Sprösslinge weitergeben.
Nachdem die Sonne untergegangen war, fiel Celine in einen tiefen und traumlosen Schlaf. Was die Elfjährige nicht wusste: Ihre Großmutter hatte ihr und ihrer Schwester weit mehr vermacht, als einen alten Klunker und ein ledergebundenes Buch.
© Nathalie Hawthorne 2023-05-22