Matura in der Hose

Tina Ried

von Tina Ried

Story
2017

Acht Jahre. Acht Jahre voller wundervollem Schein-Enthusiasmus, Zahnputztanten-Lächeln und Einsaug-Ausspuck-Spaß. Acht Jahre der fremdgesteuerten Selbstfindung. Druck, bester Freund der Lehrer und Lehrerinnen, ach wie sehr werden wir dich vermissen! Druck, der uns unbedeutende Steine im unendlichen Fluss des Universums zu Diamanten pressen hätte sollen. Funkelnd, alle gleich. Wer will das denn nicht? Glitzern und glänzen wie alle anderen. Noch glänzen wir nicht. Also werden wir weiter streben, noch mehr streben, nie genug, nie.

Aber du, liebe Schule, du hast uns zumindest zu Quadraten gedrückt, geformt, geschliffen. Nun passen wir in das perfekte Systempuzzle unserer vom Narzissmus schwangeren Profitwelt. Hoch sollst du leben! Ich bin dir so unendlich dankbar dafür. Oratorien, Klaviernoten, anorganische Reaktionen, Gryphius, Kreise im dreidimensionalen Raum, DNA-Replikation, die Leiden des jungen Werthers, die Liebeleien des Catull – immer wollte ich all das kennen, all das wissen. Einsaugen, Ausspucken. Ausspucken und in ein tiefes Erdloch fallen lassen. Dort begraben und vielleicht wächst darauf ja einmal ein trauriges Vergiss-mein-nicht.

So lässt du uns, liebe Schule, hinaus in die Welt wie ein volles Buch, mit kaum mehr Platz für den Rest der Galaxie. Aber was soll’s? Was soll’s, wenn wir doch nun wunderschöne Gedichte zerstückeln, zerfetzen können wie ein Löwe ein rohes Stück Fleisch? Was soll’s, denn wir wissen jetzt, was wir nie, auf keinen Fall, unter gar keinen Umständen genießen dürfen! Dort sind zu viele Säuren enthalten, da zu viel NH3+OH-, dort zu viele Kalorien, da zu viele Orthographien, Adrenalin, Kerosin, Asymmetrien, Monographien, Angstphobien, Batterien (Luft!), Artillerien, Blasphemien, Oligarchien, Dichotomien, Peripherien, Negativenergien … Wie atmet man nochmal?

Wir, ja wir wissen jetzt blendend Bescheid über die Welt und ja, der Mietvertrag, die Steuern, das ganze Leben, all das tanzt von selbst. Wir bleiben lieber unser ganzes Leben lang in der Gewitterwolke des Pseudowissens liegen, klugscheißern können wir nämlich.

Und dank dir, liebe Schule, dank dir habe ich mein ganzes Leben auf das Später aufgespart. Dank dir bin ich (zum Glück!) den wildesten Partys ferngeblieben – sie hätten nur meine Ohren beschädigt und Gehirnzellen verbrutzelt. Dank dir habe ich keine dümmlichen High-School-Teenie-Drama-Filme gesuchtelt (hurra!), sie hätten meine Hormone bloß aufgeweckt. Dank dir habe ich meine Stirn bewahrt. Engstirnig bin ich geblieben. Und das herrliche Fertiggemacht-, Angeschrien- und Geschimpftwerden – es hat mich manchmal gerade noch rechtzeitig zurück auf den Ducken-und-Nicken-Weg gebracht, schließlich wäre ich fast zu früh zum selbstbewussten, aufrechtgehenden Individuum geworden. Aber nur fast! Puh!

Danke, dass du mich vom reißenden Wasserfall weggeholt und zurück zum herrlich modrig duftenden Sumpf gebracht hast.

Nun hast du mich nicht mehr im Griff. Was passiert jetzt bloß mit mir, wenn ich den Sumpf doch noch verlasse und einen reißenden Wasserfall entdecke? Das Schlimmste aber ist: Du wirst es nicht erfahren.

© Christina Riediger 2023-08-30

Genres
Humor& Satire