von Michael Vock
Coronavirus: Woche vom 17. bis zum 23. Mai 2021
Staats- und Regierungschefs einigten sich auf ein Aufbaupaket von 1,8 Billionen Euro.
Auf dem Fensterbrett kauernd beobachtete er mit trägen Augen seine Nahrung. Ihm gegenüber lag sein Mitbewohner Max. Er verbrachte die meiste Zeit seines Lebens auf dem durchhängenden Ledersofa. Die erweiterten Pupillen richteten sich die meiste Zeit auf eine seiner zwei Leidenschaften, den flackernden Kasten auf der gegenüberliegenden Seite der Stube oder auf das Leuchtgerät in seiner Hand. Er teilte sein Revier mit Max nur widerwillig. Die Hingabe für dunkle Räume war die einzige Gemeinsamkeit zwischen ihnen.
Der geisterhafte Lichtschimmer hinter den Rollläden, die zu jeder Zeit verschlossen waren, verzog sich und in Max regte sich Leben. Hektisch drückte sein Mitbewohner auf dem Leuchtgerät herum. Aus seinem Mund kamen, zusammen mit einem Sprühregen feuchtwarmer Tropfen, Laute, die er keiner bekannten Sprache zuordnen konnte.
Er konzentrierte sich wieder auf sein Opfer und setzte zum Sprung an. In seine Nase stieg ein Rosenduft der immer wiederkehrenden Ruhestörerin. Es klopfte an der Tür. Max sprang auf und öffnete sie. Am Eingang lehnte die Frau im roten Mantel, die Max ein Päckchen entgegenhielt. Sein Mitbewohner war nach dem Besuch jedes Mal in einem wunderlichen Zustand. Er bewegte sich geschmeidiger, artikulierte trockener und tanzte zu schmerzendem Lärm aus seinem Leuchtgerät. Kaum war der Lichtschimmer hinter dem verstaubten Fenster ein kleines Stück gewandert, lag Max wieder auf dem Sofa. Seine Blicke irrten dann wild umher und er fasste sich an seine Brust.
Heute hatte die Besucherin Angst. Es hatte nichts mit der eisigen Kälte des Zimmers zu tun. Ihrem Rosenduft war ein Geruch beigemischt, der bei ihm Stress auslöste. Sie blieb nicht lange, begrüßte ihn, gab Max das Päckchen, bekam im Gegenzug eine Rolle Papier und verschwand wieder.
Max sah ihn an und zeigte seine gelben Zähne. Er zog einen Tisch, an dessen Oberfläche die Reste von getrockneter Lasagne klebten, zum Sofa heran, setzte sich und streute den Inhalt des Päckchens darauf. Aus den Augenwinkeln sah er es glänzen. Deswegen kam er näher, um es sich genauer anzusehen. Aber Max schob ihn weg, hielt seine Nase über das Pulver und zog es in seine Lungen.
Max stand auf und verschwand in der Küche. Er spazierte ihm hoffnungsvoll nach. Sein Genosse machte sich an der Schranktür zu schaffen, hielt aber ruckartig inne. Die Hände verkrampften sich. Er gab erstickte Laute von sich und krachte auf den Boden. Sein Mitbewohner versuchte, nach seinem Leuchtding zu greifen, röchelte ein wenig und lag dann mucksmäuschenstill da.
Er blinzelte zweimal und stieg mit Samtpfoten über den toten Körper hinweg. Sein Revier gehörte nun ihm allein. Er nahm seinen gewohnten Platz auf der Fensterbank ein, fuhr seine Krallen aus und wartete auf vorbeihuschende Nahrung.
© Michael Vock 2021-06-16